Freiheit zum Dienst

Freiheit zum Dienst

Reformationstage 2020

Downloads MP3 EPUB PDF

Text Von der Freiheit eines Christenmenschen

In diesem letzten Vortrag möchte ich nicht nur den letzten Abschnitten aus Luthers Schrift entlang gehen, sondern vorher auch noch einmal das zusammenfassen, was der Reformator davor schrieb, und dann – sozusagen – den Sack zubinden. Es wurde schon bemerkt, dass Luther in diesem Büchlein eigentlich so vorgeht, wie es auch der Apostel Paulus in manchen seiner Briefe eindrücklich tut: er beschreibt im ersten Teil mehr das, was Gott in Christus für uns getan und uns geschenkt hat, und im zweiten Teil das, was daraus folgen muss – wie wir mit unserem Leben darauf antworten sollen.

Das zweite hängt vom ersten ab. Unser Leben als Christen können wir nur leben, weil Gott uns dazu befreit hat. Oder um es mit den Themen dieser Vorträge zu sagen: die Freiheit, Gott zu dienen und dem Nächsten zu dienen, erlangen wir nur dadurch, dass wir im Evangelium und durch den Glauben frei gemacht wurden. Das heisst auch: um die Anleitungen des Apostels zu einem Gott gefälligen Leben richtig befolgen zu können, müssen wir immer wieder zurückschauen auf die Gründe, die uns dazu befähigen.

Das ist ein Hauptpunkt von Luthers reformatorischem Anliegen, den er eben auch in dieser Schrift niedergelegt hat. Die päpstliche Kirche legte ja das christliche Leben grundsätzlich so aus, dass der Mensch durch gute Werke im religiösen und im alltäglichen Leben Gott zufriedenstellen muss, um sich das Heil zu verdienen und ewiges Leben zu haben. Dem gegenüber zeigte der Reformator, dass Gott das Heil zuerst schenkt und der Glaubende dadurch befreit ist, Gott zu gefallen, ihm und dem Nächsten zu dienen.

Frei vom Gesetz

Wenn nun Luther im letzten Abschnitt seiner Schrift aufzeigt, wie der gläubige Mensch wirklich zu den guten Werken steht, beschreibt er eigentlich seine Beziehung zum Gesetz. Zwar hat das Gesetz bei Luther – anders als bei den Calvinistischen Reformatoren – eher eine etwas negative Betonung. Luther gebraucht den Begriff mehr im Kontrast zum Evangelium. Das Gesetz ist bei ihm das, was Paulus als die «Gebote in Satzungen» beschrieb; das, wovon es im Alten Testament heisst: «Nur wer dies alles vollkommen hält, wird dadurch leben.» – das was uns zu Christus treibt.

Luther beschrieb nicht in der gleichen Weise – oder gleich stark – wie Calvin die gute Seite des Gesetzes, die er den dritten Gebrauch des Gesetzes nannte. Die Sache selbst beschreibt Luther sehr wohl, gerade auch in unserer vorliegenden Schrift; aber er benutzte nicht den Begriff «Gesetz». Das muss von seiner persönlichen Geschichte und der Entwicklung seiner reformatorischen Absicht her verstanden werden.

Aber weil nicht nur die späteren Reformatoren, sondern auch die Bibel den Begriff «Gesetz» in verschiedener Weise – eben nicht nur negativ, sondern auch sehr positiv – betonen, getraue ich mich hier, auch Luthers Lehre in dieser Weise widerzugeben.

Ich hatte schon in meinem ersten Vortrag über die Freiheit im Evangelium angeführt, dass Luther die christliche Freiheit eigentlich unter einer doppelten Frage abhandelt. Er schreibt zuerst über die Freiheit wovon, und dann über die Freiheit wozu. In Bezug auf dieses letzte Thema könnten wir es so formulieren: Wir sind befreit von der Knechtschaft der Sünde, um Knechte Gottes für den Nächsten zu sein.

Und um den Begriff des Gesetzes zu verwenden, würde ich es so formulieren: Wir sind als Christen befreit vom Gesetz für das Gesetz. Zugegeben: das ist etwas provokativ formuliert, aber es ist das, was der Reformator in seiner Schrift eigentlich darlegt.

Wir sind befreit vom Gesetz. Das bedeutet, wir sind davon befreit, Gottes Gebote erfüllen zu müssen, um dadurch das Leben zu haben. Wir sind befreit von Gottes Zorn und Gericht über denjenigen, die sein Gesetz nicht halten, es ignorieren oder verachten und nicht halten wollen. Wir sind befreit von dem Zwang zu sündigen. Und wir sind befreit davon, dass wir das Gute, das gefordert ist, nicht tun können.

Als Glaubende sind wir nun befreit für das Gesetz. Das bedeutet, wir sind frei, das zu wollen, was gut ist. Als Knechte der Sünde mussten wir stets herausfinden und wünschen, was uns selber Erfüllung, Freude und Frieden bringt. Davon sind wir befreit und damit dafür befreit, dem Nächsten dienen zu wollen und zu können, ohne dabei auf das Resultat zu sehen – auf das, was für uns dabei herausspringt.

Mit anderen Worten: Der Glaube befreit zur Liebe. Der Glaube an Christus, der uns all das bringt, was wir vorher aus unserem eigenen Antrieb und aus eigener Kraft für uns selber wollten und suchten – dieser Glaube befreit uns dazu, diese Dinge, die wir für uns selbst wünschten, jetzt für den Nächsten zu wollen und zu suchen. Das ist die Freiheit des Christenmenschen zum Dienst.

Die Liebe und das Gesetz

Ganz am Anfang seiner Schrift stellte Luther zwei Sätze sozusagen als Titel über seine zwei Teile, wovon der zweite unseren Bezug zum Dienst beschreibt: Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan. Nun, wenn wir das so hören, scheint das vorerst nicht soviel mit Freiheit zu tun zu haben. «Ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan …»

Aber es ist in der Tat eine Freiheit, in der – oder durch die – wir dienen können. Das ist es nicht, wenn wir das Gesetz weiterhin nur von seiner negativen Seite sehen. In unserer heutigen Kultur haben die Begriffe Knecht und Dienst und Gesetz tatsächlich einen sehr negativen Beiklang. Sie werden mit Unfreiheit verbunden, weil wir eben auch ein falsches oder einseitiges Verständnis von Freiheit haben. Wir verstehen Freiheit meistens nur als den Zustand, Dinge nicht tun zu müssen.

Davon müssen wir als Christen unbedingt loskommen. Die Schrift spricht viel mehr von der Freiheit, Dinge tun oder auch erdulden zu können. Die christliche Freiheit ist vor allem, dass wir von dem befreit wurden, das uns hindert, unserer ursprünglichen Bestimmung als Gottes Ebenbilder zu entsprechen. Und diese Bestimmung ist, nach Gottes gutem Willen zu leben. Dieser Wille ist in seinem Gesetz dargelegt.

Und damit der Begriff «Gesetz» noch mehr den positiven biblischen Beiklang erhält, erinnere ich daran, dass Jesus und die Apostel das Gesetz mit Liebe gleichgestellt haben.

«Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand.» Dies ist das grösste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
(Matthäus 22,37-40)

denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt, in dem: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.»
(Galater 5,14)

Seid niemand irgend etwas schuldig, als nur einander zu lieben; denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. Denn das: «Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren», und wenn es ein anderes Gebot gibt, ist es in diesem Wort zusammengefasst: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.» Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe die Erfüllung des Gesetzes.
(Römer 13,8-10)

Auf dieser Grundlage ermahnen uns nun auch der Herr und die Apostel, in welcher Weise wir den Dienst der Liebe tun sollen. In der Bergpredigt zum Beispiel sagt der Herr Jesus:

Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist. Wer nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heissen im Reich der Himmel; wer sie aber tut und lehrt, dieser wird gross heissen im Reich der Himmel.
(Matthäus 5,17-19)

Und wenn er dann weiterfährt, die wahre Bedeutung des Gesetzes zu erklären, tut er nichts anderes, als zu beschreiben, wie Liebe tatsächlich gelebt wird. Ebenso die sogenannten paränetischen (d.h. die ermahnenden) Teile der Briefe der Apostel, tun nichts anderes als das Gesetz auf das Christenleben anzuwenden. Und sie tun das, indem sie eigentlich ein Leben in Liebe beschreiben.

So ist das Gesetz für den befreiten Christen, der aus Liebe seinem Nächsten dienen will, nicht mehr eine Forderung, die von aussen an ihn herankommt. Sondern es ist eine hilfreiche Anleitung, die ihm zeigt, wie er – nach Gottes gutem Willen – seinem Nächsten Gutes tun kann und soll.

Das Gesetz hilft uns auch dabei, richtig zu verstehen, was Liebe ist. Auch dieses Verständnis ist in unserer Kultur verloren gegangen, oft sogar ins Gegenteil verkehrt worden. Liebe wird vorwiegend nur noch als ein emotionales Empfinden gesehen. Wenn jemand sagt: «Ich liebe dich!», dann meint er damit meistens etwa folgendes: «Ich begehre dich, will dich um mich haben, weil das, was du für mich bist, angenehme Gefühle bei mir auslöst.»

Gottes Gesetz hingegen sagt, jemanden zu lieben bedeutet, sein Bestes zu wünschen und ihm zu geben, was er benötigt. In den neutestamentlichen Briefen helfen uns die Apostel, das Gesetz anzuwenden, indem sie die Gebote, die im Alten Testament negativ formuliert waren, positiv formulieren. Nicht zu töten heisst, das Leben zu fördern, alles zum Gedeihen des Lebens des Nächsten beizutragen. Nicht die Ehe zu brechen, heisst, durch Treue und Fürsorge das Band der Ehe zu festigen. Nicht zu stehlen, heisst, dem Nächsten von meinem Besitz weiterzugeben, wo er Not hat. Nicht falsches Zeugnis zu geben, heisst, die hilfreiche und rettende Wahrheit zu reden. Und nicht zu begehren, was dem Nächsten gehört, heisst, sich mit ihm über sein Wohlergehen zu freuen.

Luther fasst diese Ausrichtung der Liebe mit 1. Korinther 13,5 zusammen, wo der Apostel sagt: «Die Liebe sucht nicht das Ihre.» Die Liebe ist nicht ein Gefühl, das ich zu erreichen suche, indem ich andere Menschen dazu benütze, sondern sie ist ein tätiger Dienst, der das Wohl des Anderen sucht.

So halten wir als freie Christen das Gesetz nicht als Mittel, um das Heil zu erlangen. In Christus, durch die Verbindung im Glauben an ihn, haben wir bereits das Heil und dazu die Freiheit, dem Nächsten zu dienen. Dazu hilft uns das Gesetz, indem es die Liebe definiert. So kommen wir in meinem letzten Teil noch zu der Quelle der Kraft in uns; der Kraft, die wir benötigen, um das Gesetz in diesem Sinn zu erfüllen: Christus.

Christus und das Gesetz

Luther zeigt uns Christus als Vorbild der rechten Liebe und als Quelle der Liebe in uns. Er zitiert aus dem Galater- und aus dem Philipper-Brief. In Galater 2,19-20 erklärt Paulus, wie das Gesetz durch Christus für uns eine neue Bedeutung bekommen hat:

Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe; ich bin mit Christus gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir.

Das Gesetz tötet zuerst, es verurteilt mich wegen meiner Sünde (d.h. der Übertretung des Gesetzes) zum Tod. Ich bin mit Christus gestorben, sein stellvertretender Tod geschah für mich. Nun, mit Christus in seinem Tod verbunden, bin ich auch mit seinem Leben verbunden. Und dieses sein Leben lebt er nun in mir und durch mich. Das heisst, er liebt durch mich. Er erfüllt Gottes Gesetz durch mich.

Luther zitiert auch Galater 4,4, wo es heisst, dass Christus unter das Gesetz geboren war. Und weiter erklärt er, dass er uns darin vorausgegangen ist, das Gesetz zu erfüllen und zu leben, obwohl es nicht für sich hätte tun müssen. Er war als Gottes Sohn frei vom Gesetz, ist aber für uns herabgestiegen und erniedrigte sich, um uns durch das Gesetz zu dienen. Aus dem Philipperbrief hält der Reformator uns dieses Vorbild Christi vor Augen, wo Paulus uns auffordert:

Wenn es nun irgendeine Ermunterung in Christus gibt, wenn irgendeinen Trost der Liebe, wenn irgendeine Gemeinschaft des Geistes, wenn irgendein herzliches Mitleid und Erbarmen, so erfüllt meine Freude, dass ihr dieselbe Gesinnung und dieselbe Liebe habt, einmütig, eines Sinnes seid, nichts aus Eigennutz oder eitler Ruhmsucht tut, sondern dass in der Demut einer den anderen höher achtet als sich selbst; ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern ein jeder auch auf das der anderen. Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus war, der in Gestalt Gottes war und es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein. Aber er machte sich selbst zu nichts und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod am Kreuz.
(Philipper 2,1-8)

Christus ging in seiner Liebe, das heisst in seiner Hingabe für die bedürftigen Menschen, so weit, dass er die grösste Erniedrigung auf sich nahm – vom höchsten Wesen als Gott – zum geringsten aller Menschen, als verachteter Verbrecher gerechnet und unschuldig zum Tod verurteilt.

Ebenso sollen wir als Christenmenschen, die in Christus göttliche Natur erhalten haben, bereit sein, uns zu erniedrigen; zum Wohl der Mitmenschen. Paulus sagt, dieselbe Liebe wie Christus zu haben bedeutet, den anderen höher zu achten als sich selbst und nicht auf das unsere, sondern auf das der anderen zu achten. Das bedeutet, unter Bereitschaft des eigenen Verlustes den Gewinn des Nächsten zu suchen. Das ist die hohe Berufung des freien Christen, in der Weise ein Diener aller zu sein.

In Christus habe ich alles, die Freiheit von der Knechtschaft der Sünde, Freiheit vom Gesetz als Überforderung, Freiheit von Schuld und vom Zorn Gottes. Ich habe Gottes Zusage, sein angenommenes Kind zu sein. Ich habe ewiges Leben, Frieden, Freude, Erfüllung aller meiner wahren Bedürfnisse. Diese Dinge kann mir niemand nehmen, niemand hindern. Ich kann sie nicht mehr verlieren.

Deshalb kann ich sie loslassen, wie Christus, der seine Vorrechte nicht wie eine Beute festhielt. Luther sagt: ich bin dazu befreit, alle guten Werke zu tun, die ich für mich selbst nicht benötige – etwa um mir das Wohlwollen Gottes und den Himmel zu verdienen – die aber dem Nächsten dienen.

In dieser Weise dienen wir Gott, wenn wir dem Nächsten dienen. Es ist nicht ein Gottesdienst durch religiöse Übungen und Zeremonien. Diese braucht Gott nicht von uns, damit wir ihm gefallen. Wir gefallen ihm bereits, weil Christus uns beim Vater angenehm gemacht hat. Luther sagt an einer Stelle: «Gott braucht deine guten Werke nicht – dein Nächster braucht sie.» Dennoch sagt der Herr Jesus, dass unser Dienst für den Nächsten, unsere Liebe zum Nächsten, eigentlich ein Dienst für Gott und Liebe zu Gott ist.

Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan!
(Matthäus 25,40)