Zwinglis Weg zu Gottes Wort

Zwinglis Weg zu Gottes Wort

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An den Anfang des Vortrags über Zwinglis Weg zu Gottes Wort stelle ich das Wort, das er auf das Titelblatt aller seiner Schriften drucken liess (Matthäus 11,28): «Kommt zu mir, all ihr Geplagten und Beladenen: Ich will euch erquicken.» Der Botschaft des Evangeliums, die der Reformator in der Bibel gefunden hatte, widmete er sich mit aller Kraft. Er vernahm die gute Nachricht niemals bloss für sich allein, sondern war darum besorgt, sie seinen Zeitgenossen zugänglich zu machen. So trat er einen Tag vor seinem 35. Geburtstag vor die Gemeinde und kündigte an, wie er seinen Predigtdienst gestalten werde: Anstatt die kirchlich verordneten Bibelabschnitte zu betrachten, werde er die Geschichte des Erlösers Christus anhand des Matthäusevangliums verkünden. Abschnittsweise wolle er aus der Bibel vorlesen und seinen Hörern erklären, was die Worte bedeuten.

Dieses Vorhaben scheint uns heutzutage nicht besonders revolutionär. Pfarrer suchen ihre Predigttexte selbständig aus. Heute noch wird in manchen Gemeinden die Bibel fortlaufend ausgelegt, ein Brauch, der bereits vor Zwingli in der Kirche gepflegt wurde. Damals war eine solche Art zu predigen allerdings eine Besonderheit. Dem gewöhnlichen Volk mochte man die biblischen Texte nicht zumuten: Sie seien schwierig zu verstehen und verwirrten die Hörer. Deshalb wurden die Bibelabschnitte sorgfältig ausgesucht, die man dann ohne weitere Erklärungen vortrug. Nun sollte aber die ganze Gemeinde alles zu hören bekommen; auch jene Abschnitte, die man bisher verschwiegen hatte. Heutzutage würde man Zwingli als Enthüller – neudeutsch «Whistleblower» – bezeichnen, weil er eine Wahrheit öffentlich verkündete, die die Kirche den Menschen über Jahrhundert verschwiegen hatte. Ohne Durchblick konnten die Leute leicht manipuliert werden, doch dank der Wahrheit, die in der Heiligen Schrift offenbart wird, wurden die Christen frei. Alles, was während der Reformation in Zürich geschah, kann deshalb auf diesen Plan zurückgeführt werden, den der Reformator am Anfang seines Dienstes bekannt gab.

In diesem Vortrag gehen wir der Frage nach, wie Zwingli dazu kam, zur Bibel zu greifen, um sie seinen Zeitgenossen vorzulesen. Was war in der Geschichte dieses Mannes geschehen, dass er mit Traditionen brach? Was hatte ihn für den Dienst in Zürich vorbereitet und dazu veranlasst, seine ganze Schaffenskraft dafür einzusetzen, dass die Bibel gehört und verstanden werden konnte? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, folgen wir der Biographie des Reformators.

Bevor ich allerdings mit Zwinglis Herkunft beginne, muss ich eine Bemerkung zum Umgang mit Geschichte machen. Wer vergangene Ereignisse erzählt oder beschreibt, ist ständig in Gefahr, sie aufgrund seiner eigenen, von der gegenwärtigen Zeit geprägten Wertmassstäbe zu beurteilen oder zu deuten. Allzu gerne möchte man im Leben der Glaubensväter Dinge entdecken, die unsere Ansichten und Gedanken bestätigen. So berichten manche Leute allerlei Erstaunliches, was Zwingli einst gesagt oder wenigstens gemeint haben soll. In diesem Vortrag will ich mich an die Fakten halten. Wir finden sie in den Schriften des Reformators und in wissenschaftlich erarbeiteten Biographien. Besondere Erwähnung verdient die wertvolle Arbeit des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte der Universität Zürich. In den letzten Jahren wurde umfangreiche Literatur zum Thema veröffentlicht, die mir eine grosse Hilfe war. Was kann man anhand der vorliegenden Quellen über den Werdegang jenes Mannes sagen, der seinen Hörern die Bibel vorlas und sie ihnen erklärte?

Ländliche Herkunft

Ulrich Zwingli wurde am Neujahrstag im Jahr 1484 in Wildhaus geboren. Sein Vater war Ammann, der von den Bürgern gewählte Ortsvorsteher. Die Ortschaft unterstand zwar dem Bistum Sankt Gallen, genoss aber durch die ihr zuerkannte Selbstverwaltung weitgehende Selbständigkeit. Die Zwinglis waren verwandtschaftlich mit Glarus verbunden, und so schrieb sich der Reformator an der Universität Wien als «Zwingli aus Glarus» ein.

Von Kindsbeinen an war er von der Eidgenossenschaft angetan, die damals noch nicht das heutige Staatsgebiet erreicht hatte. Der Knabe soll gerne gehört haben, wenn der Vater vom Schweiss und der Notzeit berichtete, die die Vorfahren wegen ihres Kampfes für die Freiheit auf sich nehmen mussten. Zwingli wuchs von Jugend an weder als Wildhauser noch als Toggenburger auf, sondern nach seiner Überzeugung als Eidgenosse. Deshalb war es für ihn später selbstverständlich, sich für das Wohl des Staatenbundes einzusetzen.

Mit sechs Jahren wurde der Knabe zu seinem Onkel geschickt, der ihm ersten Unterricht erteilte. Der Onkel war Pfarrer und Dekan in Wesen am Walensee, eine Tagesreise von Zwinglis Heimatort entfernt. Gerne möchte man erfahren, worin der junge Zwingli unterwiesen wurde. Dazu gibt es aber keine bekannten Quellen. Der Onkel war auch später noch um die Ausbildung und das Wohlergehen seines Neffen besorgt, was im Lauf der Biographie des Reformators deutlich wird.

Der erste Unterricht war insofern erfolgreich, als Zwingli anschliessend an die Lateinschule in Basel gesandt werden konnte. Diese Schulen bereiteten die jungen Männer auf ein Studium an der Universität vor. Der Unterricht bestand in erster Linie, wie es der Name schon sagt, im Lernen der lateinischen Sprache, in der an den Hochschulen gelehrt wurde und in der sich die Akademiker unterhielten.

Zwingli war ein ausgezeichneter Sänger, lernte einige Instrumente und wurde neben dem Grundlagenunterricht auch in der Kompositionslehre geschult. Myconius ein Freund und erster Biograph Zwinglis schrieb über die Basler Schulzeit:

In der Musik zeichnet er sich weit über sein Alter aus, wie dies bei Kunstfertigen Regel ist.1

Dieses besondere Talent entdeckten auch die Ordensleute der Dominikaner in Bern, nachdem Zwingli an ihre Lateinschule gewechselt hatte. Sie hätten den begabten Jüngling gerne in ihren Orden aufgenommen. Bemerkenswert ist, dass hier sowohl der Vater als auch der Onkel eingriffen. Sie sahen in ihrem Zögling nicht einen schlicht gebildeten Mönch, der in einer Kutte Leute unterhielt. Um das Werben des Ordens zu beenden, sandten sie den jungen Zwingli an die Universität Wien. Später verurteilte der Reformator die Gewohnheit der Ordensleute ausdrücklich, bereits Jugendliche aufzunehmen und den Ordenseid leisten zu lassen. In seinen Schlussthesen zur Disputation in Zürich schrieb er:

Was bedeutet nun das Gelübde der Enthaltsamkeit, das man Gott leistet, anderes, als dass man seiner eigenen Kraft vertraut? So sind die, welche es tun, Narren oder Kinder. Denn einige werden tatsächlich schon in ihrer frühen Jugend von den Seelenmördern und Anführern der religiösen Vereinigungen oder Orden dazu verführt, solche Gelübde zu leisten. Wir sehen dann, wie sie diese im Erwachsenenalter einhalten! Ja, sie werden doppelt so schlimm wie ihre Anstifter.2

Internationales Studium

Universität Wien

Zahlreiche Eidgenossen schickten ihre Söhne nach Wien. Die Universität galt als Hochburg des Humanismus, der an den Erkenntnissen der Antike anschloss und versprach, durch Bildung eine bessere Existenzform zu gewinnen. Man hoffte, dass die jungen Männer mit ihrer fortschrittlichen Ausbildung ihr Vaterland voranbringen würden.

Zwingli war kein Asket und genoss in Wien nicht nur die Bildung, sondern auch die Gesellschaft. Seinem Vater schrieb er in einem Brief von den Veranstaltungen und vom frohen Spielen der Instrumente, denen er sich regelmässig zur Freude seiner Kommilitonen widmete. Der Vater soll ihm darauf geantwortet haben: «Mir wäre ein Philosoph lieber als ein Komödiant.» Noch einmal wird deutlich, dass aus dem Sohn ein Gelehrter werden sollte, der seinen Mitmenschen hilfreich sein konnte. Das Volk brauchte mehr als Belustigung. Um voranzukommen, war mehr nötig, als seine Sorgen für einige Minuten bei Wein und Gesang zu vergessen.

Zur Studienzeit von 1498 bis 1502 gibt es ansonsten nicht viel zu sagen. Wir erfahren nicht, welche Lehrer Zwingli hörte. Wo die Geschichte schweigt, gibt es Raum zu Spekulationen. Zwei davon möchte ich kurz erwähnen.

  • Im öffentlichen Verzeichnis der Studenten in Wien ist neben dem Eintrag von Zwingli exclusus an den Rand geschrieben. Deshalb haben einige vermutet, dass er aus irgendeinem Grund von der Universität verwiesen, oder eben ausgeschlossen wurde. Geschichtsschreiber machten sich auf die Suche nach einem Grund für eine solche Strafmassnahme. Sie forschten nach, womit Zwingli seine Zeit verbrachte, wenn er keine Vorlesung besuchen konnte. Alle ihre Erklärungen sind ungenügend. Es ist wahrscheinlicher, dass ein Gegner der Reformation diesen Eintrag später hinzufügte, um seine Abneigung gegenüber dem Reformator auszudrücken.

  • Einige wollen verstanden haben, dass Zwingli nicht nur in Wien, sondern auch in Paris und Köln studierte. Weil man allerdings in den Verzeichnissen dieser Universitäten seinen Namen nicht finden kann, ist davon auszugehen, dass er die ganze Zeit in Wien verbrachte.

Universität Basel

Etwas mehr über den Schulbetrieb erfahren wir von Zwinglis Zeit in Basel. Wie damals üblich studierte Zwingli die freien Künste, zu denen sowohl sprachliche Fächer wie Grammatik, Rhetorik und Dialektik gehörten als auch mathematischer Unterricht in Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.

Thomas von Wyttenbach war ein einflussreicher Lehrer an der Universität in Basel. Er kritisierte schon damals den Ablass und erklärte seinen Studenten, wie Christi Tod am Kreuz mit der Vergebung der Sünden zusammenhängt. Er war es wohl auch, der Zwingli dazu ermutigte, Griechisch zu lernen, um die Bibel in der ursprünglichen Sprache zu verstehen. Der Lehrer schloss sich später der Reformation seines Schülers an und wurde trotz Anfeindungen ein entschiedener Verteidiger der Erneuerung der Kirche. Zwingli schrieb ihm einmal im Rückblick auf die Studienzeit:

Wenn Du darüber klagst, Du habest Deine Jugendzeit ebenso wie die Meinige nutzlos mit dem leeren Geschwätz der Sophisten zugebracht, so hast Du nicht Unrecht. Aber Du brauchst Dir meinetwegen deshalb keine Sorgen zu machen. Ich habe die Schuld daran schon längst den schwierigen Zeitverhältnissen gegeben. Und meine Abkehr davon bewirkt, dass ich anderen Leuten edlerer Geistesart zur Warnung diene. Sie werden so nicht mehr mehr als nötig bei jenen Sophisten hängen bleiben, von denen wir uns losgerissen haben. Das freut uns mindestens so sehr, wie es uns leid tut, dass wir zu spät von ihnen losgekommen sind! Doch so hat es der gewollt, der ins Dasein ruft, was nicht ist, und der aus Verfolgern Anhänger macht.3

Der Student schloss die Studien mit einem Magistergrad ab. Deshalb wurde er später in Zürich Meister Zwingli genannt. Theologische Vorlesungen hatte er bis dahin bloss ein halbes Jahr besucht. Wie damals üblich trat er ohne gründliches Theologiestudium in die kirchliche Praxis ein.

Weihe zum Priester

Nach Abschluss seiner Studien wurde Zwingli von Bischof Hugo von Hohenlandenberg, der aus Zürich stammte, in Konstanz zum Priester geweiht. Auf sein Versprechen hin, der Kirche Gehorsam zu leisten, erhielt er die Vollmacht, in ihrem Namen zu handeln. Damit war Zwingli berechtigt, die Beichte abzunehmen, Absolution zu erteilen und Messen zu lesen. Er verpflichtete sich ausserdem, nach der Ordnung der Kirche zu leben. Dazu gehörte auch das Zölibat, die Ehelosigkeit.

Pfarrdienst in Glarus

An seiner ersten Pfarrstelle in Glarus nahm Zwingli die ihm von der Kirche anvertrauten Aufgaben wahr. In dieser Gemeinde bekam er es mit dem Reislaufen zu tun, dem Söldnerwesen. Die Pfarrkinder stellten sich in den Kriegsdienst fremder Herren. Als Feldprediger begleitete Zwingli das Glarner Heer, das an der Seite des Papstes gegen den französischen König kämpfte. Es ist davon auszugehen, dass er in der Schlacht von Marignano dabei war, wo Eidgenossen in beiden Heeren einander gegenüberstanden. Die Schlacht endete in einem fürchterlichen Blutbad. Es waren aber nicht nur die Eindrücke vom Schlachtfeld, die den Pfarrer aus Glarus dazu veranlassten, sich gegen das Reislaufen zu äussern. Die zurückgekehrten Kämpfer konnten sich kaum mehr in die Gesellschaft einordnen. Durch ihren Kriegsdienst aller ehrlichen Arbeit entwöhnt, gaben sie sich dem Müssiggang hin und fielen der Mildtätigkeit ihrer Landsleute zur Last, oder sie waren so verroht, dass sie auch in der Heimat weiterhin durch Totschlag, Raub und Plünderung ihren Lebensunterhalt bestritten. Deshalb warnte Zwingli eindringlich vor dem Reislaufen und schlug vor, es zu verbieten.

Während seines Dienstes in Glarus überzeugte der Pfarrer die Landsgemeinde, eine Lateinschule zu eröffnen, der er als Lehrer diente. Er gewann durch diese Aufgabe grossen Einfluss auf die Jugend. Aegidius Tschudi, der bekannte Chronist der Eidgenossenschaft, erhielt seinen ersten Unterricht bei Zwingli, wandte sich aber später gegen die Reformation. Glarean, ein Zeitgenosse Zwinglis, der aus dem Kanton Glarus stammte, ein Universalgelehrter und Humanist, schrieb später einmal an Tschudi:

Das Tal von Glarus ist steiniger Boden, auf dem die schönen Künste je nur spärlich gediehen. Doch als Ulrich Zwingli die niedern Stuben des Glarner Pfarrhauses mit der Begeisterung der Humanisten für die neu erschlossene Geisteswelt füllte, da begann unter der Jugend des Landes ein Blühen wie nie mehr nachher.4

Im Gegensatz zu den meisten seiner Amtskollegen bildete sich Zwingli durch Selbststudium weiter. Er lernte nach dem Rat seines Lehrers Griechisch, schrieb Briefe des Apostels Paulus ab, weil es zuerst noch keine gedruckte Ausgabe gab, und memorierte grosse Abschnitte des Neuen Testaments. Seiner humanistischen Ausbildung entsprechend, wollte er verstehen, was die biblischen Texte ursprünglich meinten. In einer seiner veröffentlichten Predigten berichtete er von jener Zeit:

Als ich nun aber vor sieben oder acht Jahren anfing, mich ganz an die Heilige Schrift zu halten, kam mir die Philosophie und Theologie der Kritikaster immer dazwischen. Da kam mir schliesslich, angeleitet durch Schrift und Wort Gottes, der Gedanke: Ich muss das alles liegen lassen und Gottes Willen unmittelbar aus seinem eigenen, eindeutigen Wort lernen! Ich bat Gott um Erleuchtung, und die Schrift begann mir viel klarer zu werden als nach dem Studium von zahlreichen Kommentaren und Auslegern, obwohl ich bloss die Bibel selber las.5

Die Glarner Zeit endete nach zehn Jahren. Weil Zwingli offen gegen das Reislaufen Stellung bezog, dieser Dienst aber eine wichtige Einnahmequelle im Tal war, konnte der Pfarrer aus politischen Gründen nicht mehr im Amt gehalten werden. Trotz breiter Zustimmung aus der Bevölkerung wurde er für drei Jahre von seinem Dienst freigestellt.

Es schien zunächst, als ob Zwingli verloren hätte. Seine beiden Anliegen, für die er sich eingesetzt hatte, konnte er nicht durchsetzen. Er blieb mit seiner Bibel in seinem Studierzimmer und hatte vorerst keine Kanzel, von der er seine Entdeckungen weitergeben konnte. Und die Glarner Männer? Sie blieben auf den Schlachtfeldern fremder Herren und kehrten weiterhin verroht nach Hause zurück. Im geschichtlichen Rückblick wird allerdings deutlich, dass es gerade diese beiden Themen waren, die Zwingli für seinen Dienst in Zürich vorbereiteten. Dort wollte man einerseits das Reislaufen verbieten und suchte ausserdem einen volksnahen Verkündiger. Noch war es allerdings nicht Zeit für einen Wechsel an die Limmat.

Hilfspfarrer in Einsiedeln

Der freigestellte Zwingli wurde nach Einsiedeln berufen, um die Einwohner der Talschaft sowie die Pilger seelsorgerlich zu betreuen. Damals reisten Leute sogar von der Ostsee her, um die bekannte Maria der Benediktinerabtei zu besuchen. In diesem Dienst gewann Zwingli einen Einblick in die vielfältige Volksfrömmigkeit, die die Besucher auf ihrer Wallfahrt auslebten.

Der Prediger liess es sich nicht nehmen, beim Lesen der Messe seiner Berufsbezeichnung nachzukommen. Er machte es sich zur Gewohnheit, jedes Mal einen kurzen biblischen Text auszulegen. So begann er den falschen Glauben und die fehlgeleitete Frömmigkeit anzuprangern, die unter den Pilgern herrschte. Er äusserte sich dort auch zum ersten Mal über die Ablassprediger, die ihren Zeitgenossen das Fegefeuer einheizten und päpstliche Ablässe verkauften. Der begabte Redner wusste sich allein der biblischen Wahrheit verpflichtet und wurde durch seine offene Verkündigung bald weit herum bekannt.

Auch in Einsiedeln führte Zwingli seine Studien weiter. Er widmete sich theologischer Lektüre und pflegte reichen Austausch mit Schweizer Humanisten. In Basel traf er Erasmus von Rotterdam, dessen Schriften er schon in Glarus studiert hatte. Allerdings liess er sich von den Schriften des bekannten Gelehrten nicht sonderlich beeindrucken. In Randnotizen in seinen Büchern widerspricht er Erasmus, wo er seiner Meinung nach nicht zur biblischen Wahrheit durchgedrungen ist. So ist an einem Ort mit Zwinglis Handschrift zu lesen:

Oho, guter Erasmus! Verstopfe deine Ohren, damit du die sophistische Verdrehung dessen, was die Schrift so lieblich ausdrückt, nicht hören musst!6

In seinen Schlussthesen zur Zürcher Disputation machte der Reformator ebenfalls deutlich, dass er zwar auf die angesehenen Gelehrten hörte, aber ihre Meinung verwarf, wenn sie die Wahrheit verfehlten:

Vor acht oder neun Jahren las ich ein hilfreiches Gedicht des hochgelehrten Erasmus von Rotterdam, das er dem Herrn Jesus in den Mund legte. Darin klagt Jesus in vielen sehr klaren Worten, dass man nicht alles Gute bei ihm suche, obwohl er doch der Quell alles Guten, der Retter, die Zuflucht und der Schatz der Seele sei. Da dachte ich: Es verhält sich tatsächlich so; warum suchen wir dann noch Hilfe bei den Geschöpfen? Und obschon ich daneben bei dem erwähnten Erasmus auch andere […] Gesänge fand, die an die heilige Anna, den heiligen Michael und andere gerichtet waren, und in denen er die Angesprochenen als Fürsprecher anruft, konnte mich dies doch nicht von der Erkenntnis abbringen, dass Christus der einzige Schatz unserer armen Seelen sei.7

Zwingli blieb seinem Entschluss treu, sich letztlich nur von der Bibel belehren zu lassen und alle Ansichten an dem zu messen, was Gott offenbart. Diese Haltung behielt er nicht für sich, sondern riet schon damals seinen Mitmenschen, die Schrift zu lesen, um ihre Wahrheit zu erkennen. Auch davon berichtet er in den Erklärungen zu den Schlussthesen zur Zürcher Disputation.

Zwar lehnte ich mich anfangs jener Zeit noch sehr stark an die alten Kirchenlehrer an, die ich für ihre klare und deutliche Auslegung schätzte. Doch ich ärgerte mich auch ab und zu über sie, wie sich der hochwürdige Herr Diebold von Geroldseck, Verwalter des Klosters Einsiedeln, sicher noch erinnern kann. Denn ich riet ihm damals, Hieronymus zu lesen, sagte aber gleichzeitig, es würde wohl bald soweit sein, dass weder Hieronymus noch ein anderer Kirchenvater bei den Christen weiter in Ansehen stünde, sondern nur noch die Heilige Schrift.8

Bei all den Diensten und seinem umfangreichen Studium mag es scheinen, Zwingli habe in Einsiedeln als Mönch gelebt, der sich dem Gebet und der Arbeit hingab und sich von allen weltlichen Dingen abwandte. Dem war nicht so. Wir dürfen die Geschichte nicht so verklären, dass unsere Glaubensväter zu Heiligen werden. Der Einsiedler Prediger war ein geselliger Mann und pflegte auch Umgang mit Frauen. Es heisst, dass aus einer dieser Verbindungen sogar ein Kind hervorging. Davon hatte man auch in Zürich vernommen. Als dort der Vorschlag beraten wurde, Zwingli ans Grossmünster zu berufen, sorgten diese Berichte bei einigen Leuten für grosse Bedenken. Myconius, der damals in Zürich war, schrieb nach Einsiedeln:

Du hast hier wohl Gönner, aber du hast auch Tadler, der letzten immerhin nur wenige, der ersten viele und vortreffliche, und niemand allerdings, der deine Gelehrsamkeit nicht zum Himmel erhöbe. Ich will alles ganz offen sagen. Bei etlichen schadet dir deine musikalische Liebhaberei; man nennt dich dessentwillen vergnügungssüchtig und ein Weltkind, wie sie dem sagen. Dann machen dir gewisse Leute deinen bisherigen Lebenswandel zum Vorwurf: du seiest mit Genusssüchtigen zu intim gewesen. Ich weise dies nach Kräften zurück, ich habe es wenigstens getan, damit dir daraus kein Nachteil erwächst.9

Myconius hatte sich getäuscht. Diese Gerüchte waren nicht einfach von seinen Gegnern in Zürich verbreitet worden. Zwingli gab seine Verfehlungen offen zu und schrieb an den Chorherrn Heinrich Utinger, der dem Wahlausschuss angehörte:

Ach! da bin ich gefallen und dem Hunde gleich geworden, der sich zu seinem Auswurf wendet, wie der Apostel Petrus sagt. Oh, mit tiefer Beschämung – Gott weiss es – hole ich dies jetzt wieder aus den Tiefen meines Herzens herauf.10

Diese Offenheit veranlasste die Zürcher Chorherren, dem Vorschlag zuzustimmen und den reuigen Zwingli als Leutpriester ans Grossmünster zu berufen. Viel später entdeckten zwei Historiker das Bekenntnisschreiben des Reformators in den Akten der Zürcher Kirche. Die Beiden besprachen, ob sie diese beschämenden Zeilen verbrennen sollten, damit nach ihnen niemand mehr davon erfahren konnte. Aber sie entschlossen sich, dass es dem Reformator nicht entspräche, wenn etwas von ihm verborgen bliebe. Er hatte sich selbst als elenden Sünder erkannt, dem Gott die Schuld vergab. Gerade als Begnadigter war er dazu geeignet, den Geplagten und Beladenen das Evangelium zu verkünden.

Mit Gottes Wort in Zürich

Der Mann mit dieser Biographie stand vor der Gemeinde in Zürich und kündigte vor 500 Jahren an, ihr aus der Bibel vorzulesen. Er war dazu bestens gerüstet. In seinem Selbststudium hatte er Gottes Wort gründlich kennen gelernt. In ihr hatte er die Wahrheit entdeckt, dass durch den Glauben an Christus alle Sünden vergeben sind. Niemand brauchte sich abzumühen, um mit Gott ins Reine zu kommen. Mit aller Kraft setzte er sich dafür ein, dass die Einwohner der Stadt und die Eidgenossenschaft diese befreiende Nachricht erfahren konnten. Der lebensfreudige Zwingli konnte aus eigener Erfahrung von Gottes Gnade berichten – und Gott brauchte ihn als sein Werkzeug.

Das ist der kurze Bericht davon, wie Zwingli zu Gottes Wort kam; oder man könnte auch sagen, wie Zwingli mit Gottes Wort vor die Gemeinde des Zürcher Grossmünsters kam. Welche Ereignisse führten dazu, dass Zwingli sich unter Gottes Wort stellte und seine Botschaft wahrhaft erkannte? Wir wissen es nicht genau. Und doch können wir beobachten, wie er durch seine Biographie dazu bestimmt war, seinen Zeitgenossen die Geschichte des Christus zu erklären. Das letzte Wort gehört noch einmal dem Reformator, der im Vertrauen lebte, dass Gottes Vorsehung ihn gut führt. Er schrieb in seinem Kommentar zum Matthäusevangelium:

All unser Planen und alles was wir tun, bestimmt und ordnet Gott nach seinem wohlwollenden Willen, auch wenn wir zuweilen etwas anderes vorgehabt hätten.11


Fussnoten:

  1. Oskar Farner: Huldrych Zwingli (Band 1), Seine Jugend, Schulzeit und Studentjahre 1484-1506, S. 299f. 

  2. Huldrych Zwingli, Auslegung und Begründung der Thesen oder Artikel (1523), in: Thomas Brunnschweiler; Samuel Lutz (Hg.): Huldrych Zwingli Schriften (Band 2), S. 314. 

  3. Peter Opitz: Zwingli lesen, Zentrale Texte des Zürcher Reformators in heutigem Deutsch, S. 104. 

  4. Emil Franz Jos. Müller: Briefe Glareans an Aegidius Tschudi (1533-1561), S. 107 (1), DOI: http://doi.org/10.5169/seals-124593. 

  5. Huldrych Zwingli, Die Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes, in: Thomas Brunnschweiler; Samuel Lutz (Hg.): Huldrych Zwingli Schriften (Band 1), S. 149. 

  6. Oskar Farner: Huldrych Zwingli (Band 2), Seine Entwicklung zum Reformator 1506-1520, S. 254. 

  7. Zwingli: Auslegung oder Begründung der Thesen oder Artikel (1523), S. 254f. 

  8. a.a.O., S. 172. 

  9. Farner: Huldrych Zwingli (Band 2), S. 296. 

  10. a.a.O., S. 299f. 

  11. Samuel Lutz: Ulrich Zwinglis Spiritualität, Ein Beispiel reformierter Frömmigkeit, S. 20.