Theologie der Herrlichkeit oder des Kreuzes

Theologie der Herrlichkeit oder des Kreuzes

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Luther legte zwei diametral entgegengesetzte Weltanschauungen in den Thesen zur Heidelberger Disputation dar. Es sind zwei Wege, sich dem christlichen Leben zu nähern, von denen er glaubte, dass sie innerhalb der Kirche nicht koexistieren könnten. Er nannte diese zwei Wege «die Theologie der Herrlichkeit» und «die Theologie des Kreuzes». Diese zwei könnten nicht entgegengesetzter sein. Sie sind wie Öl und Wasser, sie können sich nicht vermischen. Wie Tag und Nacht – der eine treibt den anderen aus. Sie sind voneinander getrennt wie links und rechts. Du musst zwischen dem einen oder anderen wählen. Die Theologie der Herrlichkeit ist der Weg der Welt, ein Weg des Vergnügens und des Stolzes und der Autonomie – ein Weg, der das Leben verspricht, aber an seinem Ende wartet der Tod. Der Weg des Kreuzes hingegen ist der Weg der Demut, der Schwäche, der Unterwerfung und des Glaubens. Es ist ein Weg, der wie der Tod aussieht, aber am Ende führt er zum Leben, weil er nicht vom Selbst abhängt, sondern allein von Christus.

Diese zwei gegensätzlichen Theologien sind nicht nur während der Reformation zu finden. Der Konflikt zwischen diesen beiden konkurrierenden Weltanschauungen reicht bis in den Garten Eden zurück, als Gott Adam und Eva den Weg des Lebens anbot – ein Weg der Unterwerfung, ein Weg des Vertrauens und ein Weg der Abhängigkeit von ihm. Die Schlange wies sie jedoch auf den Weg der Herrlichkeit, den Weg der Unabhängigkeit und Autonomie, bei dem sie selbst beurteilen konnten, was Gut und Böse ist. Jede Seele muss einen dieser beiden Wege wählen – sich vor Gott zu demütigen oder zu versuchen, selbst Gott zu sein. Jesus gab den beiden Wegen einen Namen: der schmale und der breite Weg. Ernüchternd sagte er, dass es viele gibt, die den breiten Weg wählen, der zum Tod führt, aber es sind nur wenige, die den schmalen Weg finden, der zum Leben führt (Matthäus 7,13-14).

Und ich glaube, dass die Ursache für die Heidelberger Disputation und für die 95 Thesen und sogar für die Reformation als Ganzes darin bestand, dass Menschen wie Luther die geistliche Einsicht gegeben wurde, dass die Kirche im Laufe der vergangenen 1500 Jahre den Kurs verändert hatte. Sie hatte den schmalen Weg verlassen und schlenderte nun fröhlich den breiten Weg der Zerstörung hinunter. Wie Adam vor ihnen waren sie dem Lied des Bösen zu einer verführerischen Melodie der Rattenfänger gefolgt, die Luther die «Theologie des Ruhmes» genannt hätte.

Martin Luther war zu seiner Zeit so etwas wie ein Prophet – der uns zurückruft auf den schmalen Weg Christi, zurück zum Glauben, zurück zur Demut und zurück zum Kreuz, um der Hoffnung, der Freude, des Friedens und des Lebens willen. Aus diesem Grund finde ich, dass Luthers Argumente in der Heidelberger Disputation für die Kirche heute genauso wichtig sind wie vor einem halben Jahrtausend. Diese beiden theologischen Kräfte – der Ruhm und das Kreuz – kämpfen immer noch um die Vorherrschaft in der heutigen Kirche – und auch in unseren Herzen. Ich habe die Vorbereitung zu diesem Vortrag als sehr aufschlussreich und sehr konfrontativ für meine eigene Seele empfunden. Ich bin dankbar dafür und es freut mich, die Gelegenheit zu haben, dies heute Nachmittag mit euch zu vertiefen.

Um jedoch wirklich die Macht von Luthers Argumentation über diese beiden Kräfte zu verstehen, müssen wir zunächst seinen unmittelbaren Kontext und die Kämpfe verstehen, die er im 16. Jahrhundert führte. Luther hat die Heidelberger Disputation nicht irgendwo in der Wüste in einer Höhle geschrieben, als er über Gott und die Wahrheit philosophierte. Er schrieb in einem bestimmten Kontext an ein bestimmtes Volk. Er hatte zweifellos bestimmte Schriften und Namen bestimmter Personen im Kopf, als er diese Worte schrieb. Und ich möchte diese Leute, diese Gruppen, diese besonderen Ziele seiner prophetischen Pfeile in drei Hauptuntergruppen zusammenfassen, die zu seiner Zeit in der römischen Kirche vorherrschten. Danach werden wir sehen, ob wir etwas über unsere eigene Zeit lernen können. Natürlich erkenne ich an, dass dies zu einer Vereinfachung der Situation zu Luthers Zeiten führt, aber es wird, so hoffe ich, uns ein lebendigeres Bild dessen geben, was er vorhatte, als er dieses wichtige Dokument schrieb.

Der Weg der Vernunft und der Logik

Die erste Untergruppe innerhalb der Kirche, von der ich glaube, dass Luther sie im Sinn hatte, als er von den «Theologen der Herrlichkeit» sprach, waren wahrscheinlich die Scholastiker. 1518 kam die Kirche aus der Zeit der Hochscholastik. Berühmte katholische Lehrer wie Dun Scotus, Wilhelm von Ockham und Thomas von Aquin wurden aufgrund ihrer Schriften und aufgrund der Macht ihrer rationalen theologischen Argumente hoch angesehen. Die Scholastik war eine Bewegung, welche die Vernunft zur höchsten Form des Wissens erhob, zusammen mit den Werkzeugen der Logik, die die Philosophie von Aristoteles anbot. Theologen der Hochscholastik haben versucht, durch Vernunft und Logik schwierige Fragen in der Bibel zu beantworten und zu lösen, was sie als Widersprüche in der Theologie wahrnahmen.

Natürlich hätte Luther fröhlich zugestimmt, dass Vernunft und Logik Gaben Gottes sind und in allen theologischen Bestrebungen verwendet werden sollten – das war nicht sein Problem. Was ihn beunruhigte, war, dass die Scholastiker die aristotelische Logik über und manchmal sogar gegen die Schrift gestellt hatten. 1517, ein Jahr bevor Luther diese Disputation schrieb – und im selben Jahr, in dem er die 95 Thesen schrieb – schrieb er auch 97 Thesen mit dem Titel «Eine Disputation gegen die Scholastiker», in denen er diese Untergruppe innerhalb des Katholizismus wegen ihrer intellektuellen Arroganz scharf kritisierte. Ich stelle mir vor, dass Luther die Scholastiker im Sinn hatte oder zumindest einige davon, als er ein Jahr später die Präambel der Heidelberger Disputation schrieb. Dort heisst es:

Aufs höchste misstrauisch gegen uns selbst nach des Heiligen Geistes Rat: «Verlass dich nicht auf deinen Verstand», legen wir dem Urteil aller, die dabeisein wollen, in Demut diese theologischen Paradoxa vor.

Habt ihr es gehört? «Aufs höchste misstrauisch gegen uns selbst.» Seht ihr, die Scholastiker waren nicht in der Lage, sich vor diesen «theologischen Paradoxien» der Schrift zu demütigen. Sie verlangten Antworten. Antworten, die in der Bibel nicht sofort verfügbar waren. Sie beriefen sich auf Aristoteles, auf Logik und Vernunft, um die Lehre der Kirche aufzubauen. In den Thesen 43-45 seiner Schrift gegen die Scholastiker bekommen wir einen guten Geschmack von Luthers Geringschätzung für diesen intellektuellen Übermut, der mit dem Namen Aristoteles verknüpft wurde.

 Es ist ein Irrtum, zu behaupten, ohne Aristoteles werde keiner ein Theologe … Ja, es wird keiner ein Theologe, wenn er es nicht ohne Aristoteles wird. Zu sagen, ein Theologe, der kein Logiker ist, sei ein ungeheuerlicher Ketzer, ist eine ungeheuerliche und ketzerische Rede.

Logik ist keine unfehlbare Methode, um zur Wahrheit zu gelangen. Gottes Wort ist die einzige Quelle der Wahrheit, der man völlig vertrauen kann, selbst wenn unser Verstand es nicht vollständig erfassen kann. Ein anderer berühmter Reformator, Johannes Calvin, stimmte in diesem Punkt mit Luther überein. 41 Jahre später, in seinen berühmten Bänden «Unterricht in der christlichen Religion», schrieb er (Institutio I,7,4):

Die Glaubwürdigkeit der Lehre kann nicht eher Bestand gewinnen, als bis wir ohne Zweifel überzeugt sind, dass ihr Urheber Gott ist. Deshalb wird durchweg die höchste Beglaubigung der Schrift darin gesehen, dass hier Gott in Person redet. Die Propheten und Apostel führen nicht ihren Scharfsinn für sich an oder was sonst den Rednern Glauben verschaffen mag, sie bestehen auch nicht auf Vernunftgründen, sondern sie nennen Gottes heiligen Namen, durch den die ganze Welt zum Gehorsam genötigt wird.

Warum ist die Scholastik ein Beispiel für die Theologie der Herrlichkeit und nicht für das Kreuz? Weil sie die menschliche Fähigkeit der Vernunft als letzten Schiedsrichter der Wahrheit erhebt. Sie verherrlicht die rationalen Kräfte des Menschen und ist unfähig, mit kindlichem Glauben den scheinbaren Paradoxien der Heiligen Schrift zu vertrauen, die unserer Vernunft widersprechen. Es ist eine Art intellektueller Tod, unseren Stolz zu opfern und einfach zu sagen: «This I know, for the Bible told me so.» (Das ist wahr, weil die Bibel es mich so lehrt.) Vielleicht hatte Luther das vor Augen, als er sagte (These 17): «Denn nach dem Evangelium ist das Himmelreich den Kindern und den Demütigen gegeben, denn sie lieben Christus.» Man muss sich wirklich demütigen, um das Evangelium anzunehmen. Zu glauben wie ein Kind bedeutet, der Schrift zu vertrauen und an unserer eigenen Vernunft zu zweifeln, wenn die beiden sich zu widersprechen scheinen.

Es war genau diese Wurzel rationalistischer Arroganz, die vier Jahrhunderte später im Zuge der Aufklärung in der Kirche zur vollen Blüte kam. Der Modernismus schlich sich in die Herde ein und lenkte die Kirche noch einmal von der schmalen Strasse des kindlichen Glaubens auf den breiten Weg der intellektuellen Befriedigung. Es war der grosse deutsche Theologe Rudolf Bultmann, der sagte, dass wir die Bibel «entmythologisieren» müssen. «Wir müssen die Schalen der Texte des Neuen Testaments entfernen, um zum Samen zu kommen.» Der Samen, von dem er sprach, war Liebe für den Nächsten, und die Schalen, des Neuen Testaments, die entfernt werden müssen, sind alle vor-wissenschaftlichen Mythen, die Vernunft und empirische Beweise nicht belegen können (wie Engel, Dämonen, Wunder, Himmel, Hölle, Auferstehung und sogar Gott selbst). Bultmann war ein Universitätsprofessor, der die nächste Generation von Predigern in Deutschland ausbildete, und die Kirche leidet immer noch unter seinen Gedanken. In der Heidelberger Disputation zitiert Luther die Worte von Paulus aus dem ersten Korintherbrief. Wie passend waren sie in seiner Zeit und sind es auch in unserer (1. Korinther 1,20-21):

Wo ist der Weise, wo der Schriftgelehrte, wo der Wortgewaltige dieser Weltzeit? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt durch [ihre] Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Verkündigung diejenigen zu retten, die glauben.

Das ist die Theologie des Kreuzes, die Theologie der Demut und der Unterwerfung, eine Theologie, die zur Wahrheitsfindung auf Gott angewiesen ist, mehr als auf die Fähigkeiten unserer Vernunft. Man kann fast spüren, dass Luther die Scholastiker anstachelt, als er schrieb (These 22): «Das heisst, wenn jemand weise werden will, so soll er nicht im Vorgriff, sondern im Rückgriff nach Weisheit trachten und im Verlangen nach Torheit einfältig werden.»

Ich war schockiert, als ich erfuhr, dass Dr. Bruce Waltke, einer meiner Lieblingsseminarprofessoren und einer der angesehensten Professoren für Hebräisch in der heutigen protestantischen Kirche, erklärte: «… wenn die Daten in überwältigender Weise zugunsten der Evolution sprechen, würde es uns zu einer Sekte machen, die Realität zu leugnen … eine seltsame Gruppe, die nicht wirklich mit der Welt interagiert.» Seht ihr, was er sagt: Lass uns nicht an eine wörtliche Interpretation von 1. Mose festhalten, sonst wird uns die Welt für Narren erachten. Wir vertrauen mehr auf obskure, in der Natur verborgene Hinweise, die uns glauben machen lassen, dass sich Homo sapiens tatsächlich aus den grossen Affen entwickelt hat, anstatt dem von Gott ausgeatmetem Wort zu vertrauen (2. Timotheus 3,16).

Luthers Kritik an den Scholastikern ist heute in der westlichen Kirche besonders relevant. Wie viele von uns halten das Evangelium auf Distanz und halten unsere völlige Hingabe an Gott zurück, weil wir nicht erklären können, warum Archäologen menschliche Knochen nicht in den gleichen Gesteinsschichten finden, in denen jene der Dinosaurier liegen? Oder weil wir es nicht beantworten können, wie es möglich ist, dass ein guter Gott das Böse zulässt. Oder: Wie hätte ein liebevoller Gott es zulassen können, dass meine Mutter so lange an Krebs zu leiden hatte? Bis ich verstehe wie und wann und warum, kann ich mein Leben Ihm nicht übergeben! Wir mögen nicht mit den gleichen hohen philosophischen Fragen ringen wie die Scholastiker zu ihrer Zeit, aber wir in Europa sind die Erben ihres fehlgeleiteten Vertrauens in die menschliche Vernunft, und wir tun gut daran, über die Worte unseres Herrn sorgfältig nachzudenken, der sagte (Markus 10,15): «Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen!»

Versteht mich nicht falsch. Ich glaube nicht – und Luther würde es nicht glauben –, dass der Glaube, der erforderlich ist, um «in das Königreich einzutreten», der Vernunft entgegensteht. Nein, darum geht es nicht. Der Punkt ist, dass wir, wenn wir mit den «Paradoxien» von Schrift und der Theologie konfrontiert werden, die wir nicht erklären können, nicht verzweifeln, sondern demütig mit Jesaja erklären (Jesaja 55,8-9): «Denn meine Gedanken sind nicht deine Gedanken, noch sind deine Wege meine Wege, erklärt der Herr. Denn wie die Himmel höher sind als die Erde, so sind meine Wege höher als deine Wege und meine Gedanken als deine Gedanken.»

Einer meiner Lieblingsbiographien beschreibt das Leben und den Dienst von Adoniram Judson. Er war im frühen 19. Jahrhundert der erste protestantische Missionar in Burma. Adoniram litt in Burma unter vielen Schwierigkeiten und sah jahrelang keine Früchte. Endlich, nach mehreren Jahren Arbeit, kam sein erster Bekehrter eines Abends zu einem Bibelstudium und sagte zu ihm, dass er sich gerne taufen lassen und ein Nachfolger Christi werden möchte. Judson war begeistert, er war überglücklich – das war sein allererstes Bekehrter nach all seinem Blut, Schweiss und Tränen. Aber der vermeintlich Bekehrte hatte ein Problem. Er konnte nicht verstehen, wie Gott der Vater es dem Sohn zumuten konnte, so sehr zu leiden. Judsons Antwort ist unbezahlbar und eine kraftvolle Erinnerung für uns alle. Er sagte: «Deshalb bist du kein Jünger Christi. Ein wahrer Jünger fragt nicht, ob eine Tatsache seiner eigenen Vernunft entspricht, sondern ob sie in dem Buch enthalten ist. Sein Stolz hat dem göttlichen Zeugnis nachgegeben … dein Stolz ist immer noch ungebrochen. Zerbrich deinen Stolz und gib dich dem Wort Gottes hin!»

Der Weg der Macht, des Reichtums und der Ehre

Die zweite Gruppe innerhalb der römisch-katholischen Kirche, die Luther im Sinn hatte, als er von den «Theologen der Herrlichkeit» sprach, waren jene, die schamlos den breiten Weg der Macht, des Reichtums und der Ehre suchten. Es war ähnlich wie in den Tagen von Jeremia, als Gott sagte (Jeremia 6,15): «Schämen sollten sie sich, weil sie Gräuel verübt haben! Aber sie wissen nicht mehr, was sich schämen heisst, und empfinden keine Scham.»

Die Kirche war in der Zeit der Reformation hungrig nach Reichtum, nach politischer Macht und nach persönlichem Ruhm. Wir haben von den Korruptionsgeschichten der römisch-katholischen Kirche zu Luthers Zeiten gehört. Wie war das möglich? Der Dienst unseres Herrn war doch durch Demut und Opfer gekennzeichnet. Jesus «entäusserte sich selbst, indem er die Gestalt eines Dieners annahm (Philipper 2,7). Jesus wusch die Füsse seiner Jünger. Er lehrte die zukünftigen Führer seiner Kirche, dass «wenn jemand der Erste sein will, so sei er von allen der Letzte und aller Diener (Mk 9,35).» Es war für Luther eindeutig, dass die Kirche die Theologie des Kreuzes gegen die Theologie der Herrlichkeit eingetauscht hatte. Sie hatten das Waschbecken gegen den kirchlichen Thron ausgetauscht.

Die Theologie des Kreuzes ist paradox für unsere Gedanken und abstossend für unser Fleisch. Wie kann ich der Erste werden, indem ich mich an die letzte Stelle begebe? Das befriedigt weder meinen Verstand noch befriedigt es mein Fleisch, aber es ist der Weg zum Leben. Jesus sagt: «Du willst Freude haben?» – «verkaufe alles, was du hast, gib es den Armen und folge mir nach!» «Du willst das Leben?» – «Nimm dein Kreuz und folge mir.» Halt! Was haben Kreuze mit Leben zu tun – Kreuze sind Tod! Die Theologen der Herrlichkeiten konnten das Paradox des Evangeliums nicht akzeptieren. Luther beschrieb ihre Haltung in der Erklärung zur These 22 folgendermassen:

Das ist schon gesagt. Denn weil sie das Kreuz nicht kennen und es hassen, müssen sie notwendig das Gegenteil lieben, das heisst Weisheit, Ruhm, Macht und ähnliches. So werden sie durch solche Liebe noch mehr verblendet und verstockt. Unmöglich ist es nämlich, dass ihre Gier durch Erfüllung der Wünsche gestillt wird; denn wie die Liebe zum Geld im gleichen Masse wie das Geld selbst wächst, so ist es auch mit der Sucht des Menschen nach Wasser. Je mehr er trinkt, um so mehr dürstet ihn, wie der Dichter sagt: «Je mehr sie getränkt werden, um so mehr dürsten sie nach Wasser.»

Reichtum, Macht und Herrlichkeit versprechen eine Befriedigung, die für unseren Verstand vernünftig und unser Fleisch ansprechend ist. Aber Luther zitiert die Worte Jesu an die Frau am Brunnen (Johannes 4,13): «Jeder, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten.» Es gibt ein Heilmittel gegen unseren Durst. Aber es ist schon wieder ein Evangeliumsparadox, das dem natürlichen Herzen und Geist abstossend ist. Luther fährt in der Erklärung zur These 22 fort – hört zu, das ist grossartig!

Es bleibt also nur ein Heilmittel: heil werden nicht durch Stillen der Begierde, sondern durch Auslöschen.

Hört ihr das Paradoxon? Er schrieb:

Ebenso soll, wer reich an Macht und Ruhm und an Lust und an allen Dingen satt werden will, Macht, Ruhm, Lust und Befriedigung in allen Dingen eher fliehen als suchen. Das ist die Weisheit, die der Welt eine Torheit ist.

Seht ihr, die Theologie der Herrlichkeit und die Theologie des Kreuzes sind zwei sehr unterschiedliche Wege, die in zwei entgegengesetzte Richtungen führen; und, Brüder und Schwestern, ihr steht heute Nachmittag an der Kreuzung. Welchen wählt ihr aus? Der eine ist breit und einfach, er ist glatt und bequem – und die meisten Menschen, die ich in Europa kenne, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Kirche, gehen blind darauf spazieren. Aber Jesus bietet dir diese paradoxe Einladung an diesem Nachmittag an. Er sagte (Markus 8,35): «Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, aber wer sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten.» Wirst du dich Ihm als Erlöser und als Herrn anvertrauen? Es sieht wie der Tod aus, aber sein Ende ist das Leben!

Einer meiner Lieblingssätze in Luthers Schriften steht in den 95 Thesen. Ich kann mir vorstellen, dass er die Gesichter der Theologen der Herrlichkeit in seinen Gedanken hatte, als er diese Worte schrieb (These 92 und 93):

Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: «Friede, Friede», und ist doch kein Friede. Wohl möge es gehen allen den Propheten, die den Christen predigen: «Kreuz, Kreuz», und ist doch kein Kreuz.

Lasst das euch mal bewusst werden – die Welt sagt dir «Frieden, Frieden – alles ist gut.» «Du hast eine Versicherung, du hast ein gutes Zuhause, du hast einen guten Job.» Aber nichts ist gut und es gibt keinen Frieden, weil du ein Feind Gottes und ein Rebell gegen seine Sache bist. Aber gesegnet sind diejenigen, die ihr Kreuz auf sich nehmen, um Christus zu folgen und am Ende feststellen, dass es überhaupt kein Kreuz war! Wie Paulus im Römerbrief schrieb (Römer 8,18): «Denn ich bin überzeugt, dass die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns geoffenbart werden soll.» Auf dieser Seite der Herrlichkeit scheinen der schmale Weg und die Theologie des Kreuzes so furchteinflössend. Aber auf der anderen Seite der Herrlichkeit wird all unser Leiden für Christus, all unser schmerzhafter Gehorsam, beschämend klein und unbedeutend im Vergleich zu unserer ewigen Freude sein, die Christus für uns erkauft hat durch sein Blut.

Der Weg des Stolzes und der Selbstgerechtigkeit

Jetzt kommen wir zu der dritten und letzten Gruppe, die Luther im Sinn hatte, als er von den «Theologen der Herrlichkeit» sprach. Es gab viele Überschneidungen zwischen ihnen, aber das waren doch drei leicht erkennbare Strömungen innerhalb der römischen Kirche zu Luthers Zeiten. Es war diese dritte Gruppe, für die sich Luther vielleicht am meisten in der (Heidelberger) Disputation interessierte. Luthers Disputation im Jahr 1517 war vor allem an die Scholastiker gerichtet. Die 95 Thesen betrafen in erster Linie Missbräuche innerhalb des römischen Klerus. Im Mittelpunkt der Heidelberger Disputation stand jedoch der Stolz und die Selbstgegerechtigkeit der römisch-katholischen Soteriologie (die Lehre von der Erlösung des Menschen).

Vielleicht war das wichtigste Evangeliumsparadoxon, das die Theologen der Herrlichkeit nicht ertragen konnten, die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben allein. Aber warum ist diese Lehre ein Paradox? Weil es die Gerechten böse und die Bösen Gerechte nennt. Das heisst: es nennt diejenigen böse, die vor Gott durch ihre eigene Gerechtigkeit anerkannt werden wollen, aber diejenigen, die sich selbst für böse halten, werden gerechtfertigt, wenn sie Gerechtigkeit allein in Christus suchen.

Die Theologie des Kreuzes fordert Demut. Sie wird zurecht eine «Theologie des Kreuzes» genannt, weil sie eine Art Tod erfordert. Der Stolz muss sterben, weil der Mensch anerkennen muss, keinen Teil zur eigenen gerechten Stellung vor Gott betragen zu können. Wie Jesaja einmal sagte (Jesaja 64,6): «Denn sogar unsere besten Werke sind nur schmutzige Lumpen.» Luther erklärt in der These 16: «Der Mensch, der da meint, er wolle dadurch zur Gnade gelangen, dass er tut, soviel ihm möglich ist, häuft Sünde auf Sünde, so dass er doppelt schuldig wird.» Es ist doppelte Schuld, weil die Tat, egal wie rechtschaffen sie in des Menschen Augen scheint, unvollkommen ist und mit Sünde befleckt. Darum werden die Menschen vor dem heiligen Gott mit allem schuldig, was sie aus sich selbst tun. Sie verdoppeln ihre Schuld allerdings, wenn sie der Sünde noch Arroganz hinzufügen, indem sie darauf bestehen, ihre guten Werke mache sie der Gnade würdig, wie es die Katholiken glauben. Um gerecht zu werden, muss man sich laut Luther wirklich aller Hoffnung seiner eigenen Gerechtigkeit entleeren und allein auf Christus zur Errettung vertrauen.

Luther hält mit Nachdruck fest (These 18): «Ganz gewiss muss ein Mensch an sich selbst verzweifeln, um für den Empfang der Gnade Christi bereitet zu werden.» Oder (Erklärung zu These 17): «Demütig können aber nicht die sein, die nicht einsehen, dass sie verdammungswürdige Sünder sind mit Sünden, die zum Himmel schreien.» Aber das ist abstossend für die Theologen der Herrlichkeit, welche die Demütigung nicht ertragen können, nur ein Empfänger der Gnade zu sein, anstatt jemand, der etwas dazu beigetragen hat, Gottes Barmherzigkeit zu verdienen.

Diese Haltung erinnert mich an ein Gespräch mit einem muslimischen Freund. Während einem Flug nach Istambul bat ich ihn, mir zu erklären, wie eine Person nach islamischer Theologie gerettet wird. Er erzählte mir vom Qur’an-Gesetz und den fünf Säulen, der Notwendigkeit persönlicher Gerechtigkeit und so weiter. Ich dankte ihm für seine Erklärung und dann fragte ich ihn, ob ich ihm erzählen könnte, wie eine Person gemäss der biblischen Lehre gerettet wird. Er erlaubte es mir, und so erzählte ich ihm alles über die Lehre der stellvertretenden Sühne. Ich erklärte ihm den erstaunlichen Austausch, in dem Jesus unsere Schuld ans Kreuz trug und gleichzeitig seine Gerechtigkeit allen denen anvertraut, die an ihn glauben. Luther bezeichnete das einst als «fremde Gerechtigkeit Christi». Als ich meinen Monolog beendet hatte, sah mein Freund mich mit einem strengen Gesichtsausdruck an und sagte: «Das ist billig! Die Tatsache, dass die Gerechtigkeit eines anderen auf deinem Konto gutgeschrieben wird, ist billige Gnade, weil du es gar nicht getan hast!» Das war keine Konfrontation mit einem Katholiken, aber es war der gleiche uralte Konflikt zwischen der Theologie des Kreuzes und der Theologie der Herrlichkeit. Die Theologie des Kreuzes ist ein Angriff auf unser Selbstwertgefühl, auf unsere Autonomie und auf unsere moralischen Fähigkeiten. Erst später dachte ich daran, meinem Freund zu sagen: «Du sagst, das Evangelium sei billig. Aber du liegst falsch. Es ist nicht billig, es ist kostenlos. Eine billige Rettung wäre immer noch zu viel für mich. Ich könnte sie mir nicht leisten. Die Gnade Gottes muss gratis sein oder ich kann sie gar nicht haben. Die Theologie des Kreuzes erfordert den Tod – den Tod unseres Stolzes und unserer Selbstgerechtigkeit.

Ich liebe, wie Leute oft über das Christentum als Krücke für schwache Leute sprechen. Es ist eine meiner Lieblingsbeleidigungen, weil ich liebe, Leuten zu sagen, dass es falsch ist. Aber es ist falsch aus Gründen, die sie nicht erwarten. Diejenigen, die uns sagen, dass unser Glaube an Jesus eine Krücke ist, liegen falsch, nicht weil sie denken, dass Christen zu schwach sind, sondern weil sie denken, dass wir zu stark sind. Jesus ist keine Krücke für schwache Menschen. Er ist die Intensivstation im Krankenhaus und die Atemmaschine und die Ernährungssonde, die sonst tote Menschen am Leben hält! Du denkst zu gross von uns und zu gering vom Evangelium, wenn du sagst, dass das Kreuz Christi billig ist und dass Jesus eine Krücke für die Schwachen sei. Die Beleidigungen müssen böser sein, um die Wahrheit zu treffen. Wisst ihr, die Theologie des Kreuzes ist abstossend für das Fleisch und beleidigend für die Vernunft, und die Theologen der Herrlichkeit können es nicht annehmen, weil es nach Tod riecht. Es ist ein Tod für den Stolz, Tod für persönliche Ehre, Tod für Autonomie, Tod für Selbstgegerechtigkeit. Aber du musst glauben, dass es ein Tod ist, der in Auferstehung endet. Es sieht aus wie Karfreitag und Golgatha, aber es endet mit Ostermorgen und einem leeren Grab.

Die Theologie des Kreuzes ist eine Theologie, die dich demütigen will, damit sie dich in Christus erhöhen kann. Es ist eine Theologie, die dich schneiden will. Aber sie schneidet dich wie das Skalpell des Arztes, um dich zu heilen. Sie will dich töten, um dich zu einem neuen und niemals endendem Leben auferstehen zu lassen. Das ist das Paradox des Evangeliums. Luther fasst diesen Punkt in der Erklärung zur Thesen 17 sehr gut zusammen:

Klar ist, dass nicht die Verzweiflung, sondern vielmehr die Hoffnung gepredigt wird, wo gepredigt wird, dass wir Sünder sind. Solche Predigt der Sünde oder vielmehr die Erkenntnis der Sünde und der Glaube an solche Predigt ist Bereitung zur Gnade. Dann nämlich beginnt das Verlangen nach Gnade, wenn die Sündenerkenntnis da ist. Dann erst, wenn er das Übel seiner Krankheit begreift, verlangt der Kranke nach Medikamenten. Wie es daher nicht eine Ursache zur Verzweiflung oder zum Tode mit sich bringt, wenn dem Kranken die Gefahr gesagt wird, die seine Krankheit birgt, sondern er vielmehr ermutigt wird, die Medikamente zu verlangen, so ist das Bekennen, dass wir nichts sind und immer sündigen, wenn wir tun, was uns möglich ist, nicht ein Verzweifeltmachen – wir müssten denn ohne Verstand sein! –, sondern bedeutet, uns zum Verlangen nach der Gnade unseres Herrn Jesu Christi in Bewegung zu bringen.

Freunde, Luthers Worte in der Heidelberger Disputation waren zu seiner Zeit ein prophetischer Ruf zur Umkehr. Noch heute, 500 Jahre später, bleiben sie Aufruf zur Umkehr. Der Konflikt zwischen der Theologie der Herrlichkeit und der Theologie des Kreuzes ist mehr als nur eine interessante historische Diskussion über eine obskure Lehre. Es ist ein Einblick in den Kampf, der in der Kirche und in jedem Herzen in Basel und in diesem Raum und in der Welt tobt. Luther stellt uns an eine Kreuzung, mit einem breiten Weg, der nach links führt, und einem schmalen Weg, der nach rechts führt. Der eine verspricht zeitliche Freude, zeitliches Vergnügen, zeitliche Ehre, aber es ist ein Weg, der unvermeidlich im Tod enden wird. Aber anders ist der Weg des Kreuzes. Es ist ein beängstigender Weg, ein enger Weg, der Opfer, Schmerz und Demut verspricht. Dieser Weg bedeutet Tod für unsere stolzen Gemüter, Tod für unser lüsternes Fleisch und Tod für unsere moralische Selbstgerechtigkeit. Obwohl unsere Sinne und unser Intellekt ihn für gefährlich halten, führt er zum Leben. Denn wir vertrauen uns Christus an. Er ist unser Führer, unser gute Hirte, unser Erretter, unser Herr. Welchen Weg werdet ihr wählen? Ich bete darum, dass der Geist unsere Herzen vor denen schützt, die sagen: «Friede, Friede!», und es ist doch kein Friede. Lasst uns der Stimme unseres Bruders glauben, der uns vor 500 Jahren gerufen hat und immer noch zuruft: «Kreuz, Kreuz!», und es ist doch kein Kreuz.