Sünde und Tod

Sünde und Tod

MP3 OGG EPUB PDF

Vor 501 Jahren machte im deutschsprachigen Europa ein Dokument die Runde, das eigentlich nur dazu gedacht war, eine theologische Diskussion anzustossen. In diesem Dokument übte ein gewisser Augustinermönch und Universitätsprofessor scharfe Kritik an einer regionalen kirchlichen Praxis, nämlich dem Ablasshandel, und zeigte dessen theologische und praktische Folgen auf, ohne aber die Lehre der römisch-katholischen Kirche grundsätzlich in Frage zu stellen. Wir reden natürlich von den 95 Thesen Dr. Martin Luthers, die er 1517 in Wittenberg veröffentlichte.

Völlig unbeabsichtigt hatte Luther aber eine Bombe gezündet. Das Papier verbreitete sich in Windeseile im Reich. Das kirchliche Establishment lehnte die Thesen empört ab und gedachte ihren Autor mittels einer gelehrten Disputation zur Vernunft zu bringen. Luther musste sich öffentlich erklären und sah sich genötigt, seinen kleinen Diskussionsbeitrag umfassend theologisch zu untermauern. Er musste sich weiter vorwagen. Nicht mehr nur der Ablasshandel als solcher und seine Duldung, ja Förderung durch die kirchlichen Institutionen stand nun zur Disposition, sondern das ganze Fundament, auf dem diese Praxis erst gedeihen konnte. Und über ein wichtiges Zeitdokument, das im Zuge dieser Generalkritik an der Lehre und Praxis der römischen Kirche entstand, wollen wir im Rahmen der diesjährigen Reformationstage sprechen: Luther Thesen zur Heidelberger Disputation.1

Ich weiss nicht, wer von euch dieses Dokument überhaupt kennt oder gar schon einmal gelesen hat. Es ist schade, dass diese 28 Thesen in reformatorischen Kreisen heute kaum noch bekannt sind. Dabei tritt Luther durch sie viel deutlicher als Reformator in Erscheinung als noch in den Wittenberger Thesen von 1517. Insbesondere scheint in ihnen die reformatorische Rechtfertigungslehre klarer und wohlbegründeter hervor.

Ein Grund für diese Klarheit liegt wohl in der Tatsache, dass Luther in seinen Heidelberger Thesen anhand der Heiligen Schrift einige grundlegende Wahrheiten über die Sünde herausgearbeitet hat. Die ganze erste Hälfte der Thesen, in der vordergründig von den Werken die Rede ist, handelt eigentlich vom Wesen und von den Konsequenzen der Sünde. Erst wenn man im Licht der Bibel das Wesen der Sünde verstanden hat, kann man zu einer biblischen Erkenntnis der Rechtfertigung kommen. Diesen so wichtigen Gedankengang zeichnen Luthers Thesen zur Heidelberger Disputation aufgrund ihres Aufbaus sehr gut nach.

Damit sind wir beim Thema des Vortrags angelangt. «Sünde und Tod», so lautet der recht undankbare Titel im Programm. Das klingt nicht besonders fröhlich und aufbauend, und das ist es auch nicht. Die aufbauenden, befreienden Themen muss ich den folgenden Referenten überlassen. Aber wir wollen versuchen, so wie damals Luther, eine gute Basis zu legen, damit wir Gottes Gnade und Liebe, um die es dann in den späteren Vorträgen gehen wird, um so mehr schätzen und würdigen können.

Sünde und Tod – eine biblische Begriffsbestimmung

Was ist Sünde? In unserer heutigen Gesellschaft hat der Begriff «Sünde» eine unverbindliche, fast spassige Bedeutung angenommen. Als Sünde gilt bestenfalls noch eine Ordnungswidrigkeit im Strassenverkehr oder der heimliche Griff in die Pralinenschachtel.

Wir wollen uns bei der Begriffsbestimmung aber vom Wort Gottes leiten lassen. In der Bibel wird sowohl im Hebräischen als auch im Griechischen unter anderem ein Wort verwendet, der soviel wie «Verfehlen eines Ziels» bedeutet. Um welches Ziel geht es? Um das Ziel, zu dem Gott den Menschen ursprünglich geschaffen hatte. In den Worten unseres Heidelberger Katechismus hatte Gott den Menschen «gut und nach seinem Ebenbild erschaffen, das bedeutet: wahrhaft gerecht und heilig, damit er seinen Schöpfer recht erkenne, von Herzen liebe und in ewiger Seligkeit mit ihm lebe, ihn zu loben und zu preisen.»2. Das war und ist die Berufung des Menschen in dieser Welt. Aber dieses Ziel seines Daseins hat der Mensch durch den Sündenfall verfehlt. Statt Gott ewig zu loben und zu preisen, d. h. ihn zu lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft3, hasst der Mensch Gott und befindet sich in ständiger Auflehnung gegen ihn und seine Gebote. Der Apostel Johannes beschreibt die Sünde darum auch als «Gesetzlosigkeit»:

«Jeder, der die Sünde tut, der tut auch die Gesetzlosigkeit; und die Sünde ist die Gesetzlosigkeit.»4

Zielverfehlung, Auflehnung gegen Gott, Übertreten der Gebote Gottes, Gesetzlosigkeit: Das ist das Wesen der Sünde.

Was tut man mit einem Geschöpf, das nicht das tut, was es eigentlich tun sollte? Wir können diese Frage eigentlich aus eigener Anschauung beantworten. Zwar können wir als Menschen keine Dinge aus dem Nichts erschaffen, wie Gott es kann, sondern wir können nur etwas bereits Bestehendes umformen oder neu zusammenstellen. Aber was tun wir zum Beispiel mit einer Kaffeemaschine, die, statt Kaffee zu brühen, nur kaltes Wasser liefert? Was tun wir mit einer Software, die unsere Urlaubsfotos, statt sie zu verschönern, einfach löscht? Wir könnten versuchen, die Sache zu reparieren, aber oft werfen wir das fehlerhafte Produkt einfach weg. Es ist für seinen Zweck untauglich.

Gott hatte dem Menschen im Garten Eden eine Berufung und eine Warnung mit auf den Weg gegeben:

«Von jedem Baum des Gartens darfst du nach Belieben essen; aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen sollst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, musst du gewisslich sterben!»5

Das war nun wirklich keine grosse Einschränkung. Alles stand dem Menschen zur freien Verfügung. Er konnte von den Bäumen essen, konnte im Garten arbeiten, konnte alle seine Gaben und seine Herrschaft über die Geschöpfe in den Dienst Gottes stellen und sein Leben zu Gottes Lob und Ehre führen.

Nur dieser eine Baum war ihm verwehrt. Jedoch brauchte er den ja gar nicht. Der Mensch braucht nicht selbst herauszufinden, was gut und was böse ist – Gott sagt es ihm. Die Existenz dieses Baumes war eine Gehorsamsprüfung: Vertraut sich der Mensch Gott und seinem Wort an, um so in ewiger Gemeinschaft mit ihm zu leben, oder vertraut er auf sich selbst und verlässt die Gemeinschaft mit Gott?

Die Schrift offenbart uns, was weiter geschah. Der Teufel in Person der Schlange stiftete Adam und Eva zur Sünde an, zum Ungehorsam an, zum Gesetzesbruch, zur Zielverfehlung, und so brachten sie selbst das Todesurteil über sich. Der Mensch hat auf Anstiftung des Teufels freiwillig Selbstmord begangen. Darum sagt der Herr Jesus an einer Stelle über den Teufel, dieser sei «ein Menschenmörder von Anfang an»6. Damals in Eden fing es an, als der Teufel den Menschen zum Selbstmord anstiftete, den dieser dann aus freien Stücken auch tatsächlich verübte. In diesem Moment verwirklichte sich die ernsthafte Drohung: «An dem Tag, da du davon isst, musst du gewisslich sterben!» Adam fiel zwar nicht auf der Stelle tot um, aber trotzdem starb er. Denn durch seine Sünde zerriss er das Band des Bundes mit Gott. Er trennte sich von der Quelle seines Lebens ab. Das weitere unmittelbare Geschehen – der bizarre Dialog in den Büschen des Gartens, die Ankündigung von Schweiss und Tränen, die Vertreibung in die Welt – sowie zahllose weitere Zeugnisse der Schrift und überhaupt die ganze Menschheitsgeschichte bis auf den heutigen Tag bestätigen diese Wahrheit: Die Menschheit ist durch den Fall Adams, ihres Hauptes, dem Tod unterworfen. Der Mensch ist von Gott getrennt, er steht in seiner Sündernatur unter Gottes ewigem Zorn und Fluch, er hat aufgrund der Sünde sein Ziel verfehlt und sein Existenzrecht in Gottes Gegenwart verwirkt.

Das alles galt, wie eben schon erwähnt, nicht nur für Adam selbst, sondern gilt für alle Menschen, weil Adam ihr Haupt und Ursprung ist. Der Apostel Paulus macht das im Römerbrief klar:

«Darum, gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod, und so der Tod zu allen Menschen hindurchgedrungen ist, weil sie alle gesündigt haben […]»7

Sünde und Tod sind zu allen Menschen durchgedrungen. Sie sind Teil unserer Natur geworden. Und darum stellt Paulus an anderer Stelle fest:

«Denn es ist kein Unterschied; denn alle haben gesündigt und verfehlen die Herrlichkeit, die sie bei Gott haben sollten […]»8

Diese von Adam ererbte Sünde nennt man in der Theologie «Erbsünde». Sie ist eine innerliche Korruption und Verderbtheit der menschlichen Natur, die sich einerseits in Hass und beständiger Abkehr von Gott und seinen Geboten äussert, und andererseits in einer Liebe und beständigen Hinwendung zur Sünde. Aus dieser schlechten Quelle sprudeln zeitlebens die tatsächlich begangenen, persönlichen Sünden. Dem Kirchenvater Augustinus wird die Aussage zugeschrieben, dass der Mensch nicht deshalb ein Sünder sei, weil er sündige, sondern dass er sündige, weil er Sünder sei. Er kann nicht anders handeln, weil er seit dem Fall inhärent sündhaft und zur Sünde geneigt ist, als stehe er auf einer Schiefen Ebene. So bringt der Mensch sowohl durch seine ererbte Anlage als auch durch seine eigenen Werke beständig den Zorn Gottes und das Todesurteil über sich.

Die römische Lehre von Sünde, Tod und Werken

Nun sind diese Tatsachen für Reformierte 500 Jahre nach der Reformation einigermassen selbstverständlich. Wenn wir uns aber mit der Heidelberger Disputation beschäftigen wollen, müssen wir die damalige theologische Situation berücksichtigen. In welchem theologischen Spannungsfeld formulierte Luther seine reformatorischen Aussagen, und warum wurden sie fast unverzüglich zur Ketzerei erklärt? Weil sich seine aus der Heiligen Schrift gewonnene Erkenntnis gegen die damals übermächtige, faktisch alleinherrschende Lehre der römisch-katholischen Kirche richtete. Deshalb wollen wir in einem zweiten Teil einen Blick auf die römische Lehre von Sünde und Tod werfen. Wir haben bereits den engen Zusammenhang zwischen der Erbsünde, der Neigung zur Sünde und den persönlichen, also den Tatsünden hergestellt: Die Sündhaftigkeit ist die schlechte Quelle oder Wurzel, aus der fortwährend schlechte Früchte hervorgehen.

Die römische Kirche dagegen löst in ihrer Lehre diesen engen Zusammenhang einigermassen auf. Sie unterscheidet recht deutlich zwischen drei Konzepten: der Erbsünde, der Neigung zur Sünde und der tatsächlich begangenen Sünde, wobei letztere wiederum in verschiedene Kategorien unterteilt wird. Sie sieht in der Sünde auch keine völlige Verderbnis der menschlichen Natur, sondern vielmehr einen Mangel.

Damit folgt sie teilweise dem spätantiken Irrlehrer Pelagius nach. Dieser meinte, die Sünde sei nicht von Adam auf alle Menschen übergegangen, vielmehr sei Sünde eine schlechte Angewohnheit und ursächlich auf Nachahmung zurückzuführen. Freilich wurde diese Lehre verurteilt und ist innerhalb der römischen Kirche offiziell immer Anathema geblieben. Dennoch hat sich eine abgeschwächte Form, der sogenannte Semipelagianismus, weitgehend durchgesetzt. Demnach sei die Erbsünde keine völlige Verderbnis der menschlichen Natur und auch keine persönliche Schuld, sondern nur mehr ein Mangel an Gerechtigkeit und Heiligkeit9. Die dem Menschen innewohnende Neigung zur Sünde, fachmännisch Konkupiszenz genannt, liege zwar im Fall Adams begründet, sei aber dennoch von der eigentlichen Erbsünde losgelöst zu sehen und auch nicht an sich Sünde. Und schliesslich bedeute diese Neigung nicht, dass der Mensch auch tatsächlich sündige oder gar sündigen müsse, sondern er könne dieser Neigung mit einiger Anstrengung und Hilfe auch widerstehen.

Mit dieser Erklärung können wir schon sehr gut nachvollziehen, warum es dem Menschen gemäss römischer Lehre durchaus möglich sei, gute Werke zu vollbringen und Verdienste bei Gott zu sammeln. Aber bleiben wir noch ein wenig bei den einzelnen Konzepten, um zu sehen, wie sich diese auf die römische Rechtfertigungslehre auswirken. Ich werde dieses Thema aber nur anschneiden, um nicht späteren Referaten vorzugreifen.

Die Frage, die sich offensichtlich jeder stellt – egal ob er Katholik oder Pelagianer oder Lutheraner oder Reformierter ist –, ist die nach dem Heil. Wie kommt der Mensch aus dem Zustand der Sünde und Schuld und damit aus der Gottesferne wieder in Gottes Gegenwart?

Die Lehre des Pelagius könnte man so zusammenfassen: Folge nicht länger den schlechten Vorbildern in deiner Umgebung nach, sondern orientiere dich an dem Verhalten, das Jesus Christus vorgelebt hat. Das ist nicht nur eine frühe antichristliche, sondern durchaus auch eine moderne postchristliche Überzeugung.

Im römischen Katholizismus will man begreiflicherweise so weit nicht gehen. Man hat ja durchaus ein Konzept von Sünde und Versöhnung, wobei es eine Art Stufensystem gibt.

Zunächst muss mit der Erbsünde gebrochen werden, und das geschieht gemäss römischer Lehre durch die Taufe. Im Sakrament der Taufe sieht man eine heilsspendende Massnahme, durch die der Mensch aufgrund der Verdienste Christi von der Erbsünde tatsächlich befreit werde.10 Aus Sicht einer Schuldenrechnung könnte man also davon sprechen, dass der Mensch nach der Taufe wieder bei Null anfange. Oder etwas zugespitzt formuliert: Unmittelbar nach der Taufe ist der Mensch vollkommen gerechtgemacht und kann seiner Errettung sicher sein.

Aus diesem Grund ist der physische Vorgang der Taufe sehr wichtig. Deshalb gibt es zum Beispiel im römischen Katholizismus bis heute den Brauch der Nottaufe an sehr schwächlichen Neugeborenen. Wenn ein Kind in Lebensgefahr ist und man nicht auf die ordnungsgemässe Taufe durch den Priester warten kann, wird das Sakrament der Taufe von der Hebamme gespendet, um die Erbsünde zu tilgen und dem todgeweihten Kind den Eingang in den Himmel zu ermöglichen.

Deshalb gab es übrigens auch die sogenannten Zwangstaufen in der katholischen Mission in der frühen Neuzeit. Da spielten keine Unterdrückungsphantasien eine Rolle, wie man heute meint, sondern das wurde als notwendiger Liebesdienst an den Täuflingen gesehen. Denn erst durch die Taufe werde der Mensch die Erbsünde los und erhalte die Möglichkeit, errettet und selig zu werden.

Allerdings bleibe auch nach der Taufe und der Tilgung der Erbsünde die Neigung zur Sünde im Menschen, und aus dieser Neigung können auch wirkliche Sünden entspringen. Hier unterscheidet die römische Kirche zwei Schweregrade: lässliche Sünden und Todsünden.11 Als lässliche Sünden werden Sünden bezeichnet, bei der der Mensch die in ihn eingegossene Liebe zu Gott zwar vorübergehend beschädigt, aber nicht zerstört. Im Gegensatz dazu ist eine Todsünde ein vorsätzlicher, schwerwiegender Verstoss gegen Gottes Gesetz, durch den der Mensch aus dem Stand der Gnade fällt und – sofern keine Versöhnung erfolgt – ewig verlorengeht.

Übrigens redet die Populärliteratur oft von angeblich «sieben Todsünden». Die gibt es aber in der römischen Lehre nicht. Vielmehr spricht man dort von sieben sogenannten «Lastern» oder «Hauptsünden».12 Diese können sich aber durchaus zu Todsünden auswachsen.

Auch aus diesem Sündenzustand kann der Mensch durch Vermittlung der Kirche wieder mit Gott ins Reine kommen, nämlich durch ihr Sakrament der Busse13. Durch die Busse, das heisst in der Praxis durch die Beichte und die anschliessend zugesprochene Sündenvergebung, werde der Getaufte wieder mit Gott versöhnt.

Diese Versöhnung muss aber keine vollständige Reinigung von der Sünde und Tilgung der Schuld bedeuten. Es kann immer noch Schuld am Menschen haftenbleiben, die er bis zu seinem Tod mit sich herumträgt. Für diese Fälle muss die Seele des Menschen gemäss römischer Lehre nach dem Tod noch im Fegefeuer geläutert werden, bevor sie in den Himmel eingehen kann.14

Diese Läuterung im Fegefeuer kann man aber wiederum umgehen, indem man einen Ablass erwirbt. Ablass bedeutet, dass man Anteil an dem Schatz der Verdienste erhält, die Christus selbst und die zahllosen Heiligen in ihrem Leben erworben haben, und so eine verbliebene Schuld durch einen Gegenwert an guten Werken tilgen kann.

Wir haben richtig gehört: Aus römischer Sicht kann ein Mensch Verdienste erwerben, indem er an Gottes Gnadenhandeln mitwirkt. Auch wenn offiziell bestritten wird, dass es sich dabei um genuin menschliche Verdienste handelt, und man diese vielmehr Gott zuschreibt, bleibt doch die Lehre stehen, dass der Mensch durch Gebete und gute Werke nicht nur sein eigenes Heil wirken, sondern auch den Schatz des Ablasses füllen und damit über seinen Tod hinaus zum Heil anderer Menschen beitragen könne.15

Wir erinnern uns nochmals, wie auf Basis dieser Lehre am Anfang des 16. Jahrhunderts eine regelrechte Industrie aufblühte und dass der geschäftsmässig betriebene Ablasshandel Anlass für Luthers 95 Thesen gab.

Das reformatorische Urteil über die Lehre Roms

Nachdem wir die biblische Sicht zum Thema Sünde und Tod repetiert und auch einige Aspekte der römisch-katholischen Lehre kennengelernt haben, stehen wir möglicherweise vor einem Rätsel. Obwohl wir nur einen ganz kleinen, wenn auch wichtigen Teil des theologischen Spektrums beleuchtet haben, sind uns schon so viele eklatante Widersprüche aufgefallen, dass wir kaum verstehen können, warum erst ein unscheinbarer Mann wie Martin Luther aus der sächsischen Provinz kommen musste, um dies in die Öffentlichkeit zu tragen und damit eine breite Reformationsbewegung anzustossen. Wir müssen aber bedenken, dass Reformation nie ein Werk des Menschen ist, sondern immer ein Werk Gottes, und dass Gott in seiner Langmut und Weisheit die Dinge so gelenkt hat, wie sie sich dann schliesslich entfaltet haben. Es gab durchaus auch schon vorher reformatorische Ansätze, denken wir beispielsweise an Jan Hus, der Anfang des 15. Jahrhunderts in Prag wirkte und den auch Luther sehr schätzen sollte. Aber erst gegen Anfang des 16. Jahrhunderts waren durch Gottes Vorsehung alle theologischen, gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt technologischen Voraussetzungen gegeben, um der Kirchenreformation zum Durchbruch zu verhelfen.

Welche Argumente brachte Luther in der Heidelberger Disputation vor? Wie begründete er seine vermeintlich «neue» Lehre? Wie es sich für einen Professor der Theologie gehört: mit unwiderlegbaren Zeugnissen aus der Heiligen Schrift, ergänzt mit Erläuterungen aus der theologischen Literatur, alles vernünftig verknüpft durch strenge Logik und angereichert mit einem Schuss Polemik.

Solch einen Stil wünschte man sich für heutige Debatten auch – nicht nur im Bereich der Theologie. Wo wird die Wahrheit heute noch im Wort Gottes gesucht? Wo sind Argumente noch vernünftig nachvollziehbar? Und nicht zuletzt: Wer bringt in der heutigen Empörungskultur noch den Mut zur Polemik, also zur argumentativen Streitkunst, auf?

Luther nahm kein Blatt vor den Mund, denn er sah sich bestätigt durch das Zeugnis der Bibel. Gleich in der ersten These stürzt er des Rechtfertigungskonzept der römischen Kirche um:

«Das Gesetz Gottes, die heilsamste Lehre des Lebens, kann den Menschen nicht zur Gerechtigkeit bringen; es ist ihm vielmehr ein Hindernis auf dem Wege dazu.»16

Die Werke des Gesetzes können den Menschen keineswegs gerecht machen. Im Gegenteil hält uns das Gesetz fortwährend die Drohung des Gerichts vor Augen, es deckt unsere Sünde und Schuld auf und klagt uns an. Darum nennt der Apostel Paulus es ein «Gesetz der Sünde und des Todes» und «durch das Fleisch kraftlos»17. Und wenn schon die Werke des Gesetzes kraftlos sind, wieviel mehr dann Werke aus eigenem Gutdünken? Daraus schliesst die dritte These sehr bestimmt:

«Die Werke der Menschen, wenn sie auch noch so sehr in die Augen fallen und gut zu sein scheinen, müssen doch als Todsünden gelten.»18

Todsünden – den Begriff, den die römische Kirche für eine Sündenart unter mehreren, wenn auch für eine besonders schwerwiegende, benutzt, wendet der Reformator konsequent auf alle Menschenwerke an. Das gilt für alle Werke und alle Menschen, also auch für die Werke der sogenannten Heiligen, die ja angeblich den Schatz des Ablasses füllen sollen. Auch die Werke der Heiligen retten nicht, nicht die Heiligen selbst und noch viel weniger andere Menschen. Und These 13 – vielleicht eine der zentralsten Thesen dieses Dokuments – liefert die Begründung:

«Der freie Wille nach dem Sündenfall ist nur noch eine Bezeichnung, und wenn er tut, soviel ihm möglich ist, tut er Todsünde.»19

Das ist wohl das erste Mal, dass Luther öffentlich über den sogenannten freien – oder vielmehr unfreien – Willen spricht. Hier laufen wieder alle Konzepte zusammen, über die wir vorhin gesprochen haben: die Erbsünde, die Neigung zur Sünde und die Sünde der Tat. Der Mensch ist eben nicht frei in der Wahl seiner Werke. Er ist nicht neutral, so dass er sich für das Gute oder Böse entscheiden könne. Das war vor dem Sündenfall so: Seiner ursprünglichen Bestimmung nach war der Wille frei auch zum Guten. Aber seither herrscht die Sünde über den Menschen, so dass sein Wille tatsächlich nur noch zum Bösen geneigt ist. Er tut aus sich heraus nur Todsünde, die unweigerlich ins Verderben führt.

Es wird recht schnell klar, worauf Luthers Argumentation hinausläuft: Der Mensch ist unfähig, sich selbst zu erlösen oder auch nur an seiner Erlösung mitzuwirken. Denn er ist durch und durch Sünder, er ist dem Tod verfallen und kann darum nur Todsünde tun. Er kann Gott nicht gefallen und keinerlei Verdienste erwerben. Rettung muss von aussen zum Menschen kommen. Aber darüber hören wir mehr in den nächsten Referaten.

Für den Augenblick wollen wir mit ein paar Versen aus Psalm 32 abschliessen, die auch Luther in seiner Argumentation verwendete, um zu belegen, dass sich alle Menschen, auch die Allerheiligsten, in der gleichen prekären Lage befinden, dass aber auch alle eine Hoffnung teilen dürfen:

«Da bekannte ich dir meine Sünde und verbarg meine Schuld nicht; ich sprach: ‹Ich will dem Herrn meine Übertretung bekennen!› Da vergabst du mir meine Sündenschuld. Darum soll jeder Getreue dich bitten zu der Zeit, da du zu finden bist […] Du bist mein Schutz, du behütest mich vor Bedrängnis, du umgibst mich mit Rettungsjubel!»20

  1. Thesen zur Heidelberger Disputation siehe http://reformationstage.erkwb.ch/pages/heidelberger-thesen-1518 

  2. Heidelberger Katechismus, Antwort 6 

  3. vgl. 5. Mose 6,5 

  4. 1. Johannes 3,4. Alle Bibelzitate gemäss «Schlachter 2000». 

  5. 1. Mose 2,16.17 

  6. Johannes 8,44 

  7. Römer 5,12 

  8. Römer 3,22.23 

  9. Katechismus der Katholischen Kirche [KKK], Absatz 405 

  10. ebd. 

  11. KKK 1854 ff. 

  12. KKK 1866 

  13. KKK 979 f. 

  14. KKK 1030 

  15. KKK 1477 

  16. Heidelberger Disputation [H. D.], These 1 

  17. Römer 8,2.3 

  18. H. D., These 3 

  19. H. D., These 13 

  20. Psalm 32,5–7