Die Heidelberger Disputation

Die Heidelberger Disputation

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An den diesjährigen Reformationstagen reden wir über die Heidelberger Disputation, die vor 500 Jahren stattfand. Eine Disputation ist ein Streitgespräch. Zur Zeit Luthers debattierten Gelehrte mit einem formalisierten Gespräch über wichtige Themen der Zeit. Eine Partei legte zunächst Thesen vor, die zur Diskussion standen. Die Debatte lief schliesslich nach einem festgelegten Muster ab. Die erste Partei trug die Gedanken schrittweise vor, die bereits in den Thesen vorlagen. Nach jedem Abschnitt bekam die gegnerische Fraktion Zeit, um den Thesen zu widersprechen. Darauf verteidigten die Befürworter ihre Ausführungen, indem sie auf den Widerspruch eingingen. Mit diesem Ablauf wollte man erreichen, dass die eigenen Gedanken über das vorgelegte Thema an den Argumenten der Gegner geschärft wurden. An den Universitäten arbeitete man mit solchen Disputationen, um Erkenntnis zu fördern und gemeinsam die Wahrheit zu erkennen.

Im Jahr 1518 wurde Martin Luther beauftragt, die Disputation vorzubereiten, über die wir heute reden. Um zu verstehen, was damals verhandelt wurde, beginnen wir die Vortragsreihe mit einem einleitenden Referat, das den geschichtlichen Hintergrund der Disputation beleuchtet, einen Überblick über die Thesen gibt und der Frage nachgeht, welche Auswirkungen das Streitgespräch in Heidelberg hatte.

Der Anlass zur Disputation

95 Thesen zum Ablasswesen

Das Dokument, mit dem wir uns heute beschäftigen, war nicht die erste Veröffentlichung von Martin Luther. Viel bekannter sind seine 95 Thesen zum Ablasswesen. Diese verfasste er, um mit den Theologen seiner Zeit über ein seelsorgerliches Problem zu diskutieren. Er ging darin der Frage nach, wie ein Mensch von seinen Sünden befreit und mit dem heiligen Gott versöhnt werden kann. Dieses erste Schreiben blieb zunächst scheinbar unbeachtet. Sein Bischof, dem er es zusandte, nahm weder Stellung noch organisierte er ein Gelehrtengespräch, um die Frage zu klären. Aber er informierte den Papst. Luther hatte in seinem Dokument davon geschrieben, dass das Oberhaupt der Kirche mit Sicherheit nichts vom Treiben der Ablasshändler wisse. Wenn dem so wäre, wäre der Bischof von Rom eingeschritten. Nun war dieser im Bilde. Er sorgte sich um den verwirrten Augustinermönch, der sich mit dem Verfassen der Abhandlung viel Mühe gemacht hat. Der Papst war der Meinung, dass dieser Brand, der in Wittenberg angefacht wurde, rasch zu löschen sei, wenn man sich bloss um Luther kümmere, der ihm ein intelligenter Mensch schien. Es seien bloss einige Erklärungen nötig, um den Autor zu beruhigen. Jemand sollte dafür sorgen, dass das Kirchenvolk in Deutschland nicht weiter mit neuen Lehren verunsichert wird. Um die Löscharbeiten sollte sich Johannes von Staupitz kümmern. Er war der Ordensgeneral.

Neue Thesen für eine Disputation

Im April 1518 fand das Kapitel, die Hauptversammlung der Augustiner, in Heidelberg statt. Luther war nicht nur Professor und Pfarrer in Wittenberg, sondern hatte seit Jahren leitende Funktionen in seiner Bruderschaft übernommen. Deshalb musste er ohnehin am Kapitel teilnehmen. Staupitz bat ihn, die Disputation zu leiten, die an einem Generalkapitel üblich war. Offenbar hoffte der Vorsteher der Versammlung, dass die Gelehrten des Ordens den Professor aus Wittenberg von der Lehre Roms überzeugen konnten.

Martin Luther nahm den Auftrag seines Vorstehers gerne an. Endlich gab es eine angemessene Auseinandersetzung über die theologischen Themen, die ihm schon lange unter den Nägeln brannten. Die Vertreter der Kirche wussten allerdings nicht, dass der Wittenberger Bruder, seit der Veröffentlichung der 95 Thesen, nicht untätig geblieben war. Bereits im Februar 1518 arbeitete er an einem neuen Dokument. Darum legte er seinem Orden 28 theologische und 12 philosophische Thesen vor, um sie auf dem Kapitel zu besprechen. Der zweite Teil konnte an der Disputation nicht mehr besprochen werden. Es fehlte die Zeit. Deshalb sind vor allem die theologischen Ausführungen des vorgelegten Dokuments beachtet und bekannt geworden. Der Reformator nutzte darin die Gelegenheit, nicht mehr bei einem scheinbar nebensächlichen Thema zu bleiben, sondern auf den Kern des christlichen Glaubens zu sprechen zu kommen.

Ermutigende Reise nach Heidelberg

Luther liess sich von seinen Pflichten an der Universität in Wittenberg beurlauben und machte sich zusammen mit einem Ordensbruder und einem Diener auf nach Heidelberg. Nach der Ordnung ihres Ordens marschierten die drei schweigend hintereinander her. Jeden Tag waren sie so bis zehn Stunden unterwegs. Nach circa 350 Kilometern Fussmarsch wurden die drei in Würzburg auf einem Karren mitgenommen. Die ganze Reise dauerte mitsamt den Aufenthalten etwa elf Tage. Historiker haben genau untersucht, welche Wege die Mönche einschlugen, wo sie unterwegs einkehrten und wen sie besuchten. Offenbar traf Luther auf einige einflussreiche Leute, die seinen Gedanken freundlich gesinnt waren. Die 95 Thesen zum Ablasshandel wurden nämlich inzwischen ins Deutsche übersetzt und an vielen Orten gedruckt und veröffentlicht. Alle diese Begegnungen wurden dem Reformator wohl zu einer grossen Ermutigung auf dem Weg zur Disputation mit den Gelehrten seines Ordens.

Eine zweite Begebenheit hat den umstrittenen Theologen wohl auch noch darin gestärkt, an seinen Gedanken festzuhalten. Wegen der Veröffentlichung der Thesen wurden viele Menschen auf Luther aufmerksam. Als bekannt wurde, dass er nach Heidelberg kommen werde, wollten viele den Professor von Wittenberg treffen. Das Interesse am wissenschaftlichen Streitgespräch war so gross, dass es nicht im Augustinerkloster gehalten werden konnte. Stattdessen traf man sich in der Fakultät der freien Künste. Das seelsorgerliche Gespräch, durch das die Gelehrten Luther den rechten Weg weisen sollten, wurde so zu einer der beachtetsten Veranstaltung jener Zeit.

Der Inhalt der Disputation

Die Thesen, die Martin Luther zur Heidelberger Disputation vorlegte, behandeln nicht wie vorgesehen den Ablass. Statt über die Busse legte er Lehrsätze darüber vor, wie ein Mensch vor dem heiligen Gott gerecht werden kann. Eindrücklich ist der Bogen, den der Reformator über dieses Thema spannt. Am Anfang spricht er vom Gesetz, das es den Menschen unmöglich macht, Gott zu gefallen. Seine Ausführungen schliesst er mit der Liebe, die Unmögliches schafft. Auf diesen beiden Säulen – dem Gesetz und der Liebe – ruhen die Thesen, mit denen der Reformator die Kernpunkte des Christentums herausarbeitete.

Welche Steine setzte Luther in den Torbogen zwischen das Gesetz und die Liebe Gottes? Weil zur damaligen Zeit weniger Wert auf Systematik als auf Folgerichtigkeit gelegt wurde, ist es nicht einfach, den Text zu gliedern. Es wurden unterschiedliche Versuche unternommen, einen Überblick über die Thesen zur Heidelberger Disputation zu bieten. Ich beschränke mich darauf, vier Aspekte kurz anzureissen. Die folgenden Referate werden auf die einzelnen Punkte genauer eingehen.

Gesetz und Werke
Jeder Mensch sündigt und kann Gottes Gesetz nicht erfüllen. Es ist ein Trugschluss, zu meinen, Gott hätte seine Gebote dafür gegeben, damit jemand sich als gerecht erweisen könnte. Aber Gott offenbart sein Recht nicht ohne Grund. Das Gesetz ist die heilsamste Lehre des Lebens, weil es Menschen auf die Suche nach Gottes Gerechtigkeit und der Vergebung Schuld schickt.
Wille und Freiheit
Weil der Wille des Menschen von der Sünde versklavt wurde, ist es ihm unmöglich, leisten zu wollen, was Gott von ihm fordert. Niemand ist frei, das Gute zu tun, das Gott beachten würde. Die Freiheit des Willens, die die Menschen betonen, kann sich deshalb nur auf irdische Dinge, aber nicht auf jene beziehen, die Gottes Herrlichkeit betreffen.
Theologie der Herrlichkeit und Theologie des Kreuzes
Der Mensch neigt dazu, sich eine Herrlichkeit zurechtzulegen. Er möchte etwas Grosses leisten, das die Welt und Gott anerkennt und ihn zu einem gerechten Menschen erklärt. Das wahre Christentum hofft aber auf den Gekreuzigten Heiland. Äusserlich ist an ihm keine Herrlichkeit. Aber gerade diese Schwachheit führt Sünder zur Vergebung und Gerechtigkeit.
Werke und Gnade
Nicht menschliche Werke, sondern der von Gott geschenkte Glaube rechtfertigt den Sünder. Luther hält fest (These 25): «Nicht der ist gerecht, der viel Werke tut, sondern wer ohne Werke viel an Christus glaubt.» Darum ist der Mensch auf Erden zu jeder Zeit auf Gottes Gnade angewiesen. Niemand kann in den Stand kommen, in dem er das Heil verdient hätte.

Mit diesem Spannungsbogen zwischen Gottes Gesetz und seiner Liebe wandte sich der Reformator erneut gegen die Theologie Roms. Sie versprach den Gläubigen immer noch, dass durch gute Werke, wie der Kauf eines Ablassbriefes, das Heil rechtmässig erworben werden könne. Während in den 95 Thesen zum Ablasshandel die Busse im Vordergrund stand, betont Luther auf der Heidelberger Disputation Gottes Gnade und sein Werk zum Heil der Menschen. Damit stiess der Reformator tatsächlich zum Kern des Evangeliums vor, wie es in der Schrift offenbart wird.

Die Auswirkungen der Disputation

Martin Luther trug in Heidelberg die Thesen vor, die er zuvor schriftlich vorgelegt hatte. Wie vorgesehen, widersprachen ihm verschiedene Gelehrte. Die Verteidigung auf den Widerspruch leitete nicht Luther, sondern sein Ordensbruder Leonard Beier. Einige Wochen später schrieb er an seinen Freund Georg Spalatin: «Die Herren Doktoren haben sowohl meine Disputation bereitwillig zugelassen, als auch so massvoll mit mir gestritten, dass sie mir aus diesem Grund sehr wertvoll geworden sind. Denn obgleich ihnen die Theologie fremd erschien, kämpften sie nichtsdestoweniger dennoch scharfsinnig und schön gegen sie. Ausgenommen einer, welcher der fünfte und jüngste Doktor war, der das ganze Auditorium zum Lachen brachte, als er sagte: Wenn das die Bauern hörten, würden sie euch mit Steinen bewerfen und umbringen.» Das Streitgespräch stärkte den Reformator. Er wurde dank den Erwiderungen der Kontrahenten noch gewisser, der Wahrheit auf der Spur zu sein.

Hoffnung auf die Jugend

Luthers Darlegung machte unter den Gelehrten offenbar keinen grossen Eindruck. Es gelang nicht, die Gegner der Thesen zu überzeugen. Aber schon kurz nach der Veranstaltung war dem Reformator klar, dass die Auseinandersetzung nicht umsonst war. In seinem Brief an Spalatin heisst es: «Das ist meine ausserordentliche Hoffnung, dass, so wie Christus zu den Heiden ging, als die Juden ihn verwarfen, dass so auch die wahre Theologie, welche von den mit Hirngespinsten angefüllten alten Theologen verworfen wird, auf die Jugend übergeht.» Diese Hoffnung erfüllte sich.

Martin Bucer
Zu den jungen Leuten gehörte Martin Bucer. Dieser berichtete einem Freund von der Heidelberger Disputation: «Wie sehr auch unsere Hauptstreiter sich anstrengten, Luther aus dem Sattel zu heben, so vermochten sie ihm doch nicht einen Fingerbreit abzugewinnen. … Tags darauf hatte ich eine vertraute Unterredung mit ihm unter vier Augen und teilte danach sein bescheidenes, aber mit köstlichen Gesprächen gewürztes Mahl. Was ich auch fragen mochte, alles wusste er aufs Klarste mir auseinanderzusetzen.» Die Begeisterung, mit der der Dominikaner schrieb, liess ihn nicht mehr los. Bucer wandte sich der evangelischen Theologie zu und trat drei Jahre nach dieser Begegnung aus dem Orden aus. Er wurde bekannt als Reformator von Strassburg und unterhielt Verbindungen zu anderen Theologen in ganz Europa.
Süddeutsche Reformatoren
Neben diesem bekannten Namen sind etliche zu nennen, die die Theologie der Reformation in den süddeutschen Raum trugen. Unter ihnen Johannes Brenz, der in Schwäbisch Hall und Stuttgart wirkte, Martin Frecht aus Ulm und Theobald Billican, der in Nördlingen seinen Dienst begann. Sie alle wurden zu einflussreichen Förderern der Reformation.

Luthers Ahnung wurde Wirklichkeit. Die Disputation in Heidelberg war eine Anregung für viele von den Jungen, die damals noch nicht zu Wort kommen konnten, die Wahrheit des Evangeliums zu suchen. Später setzten sie ihr Leben dafür ein, Menschen vom Irrtum zu befreien. Wo sie hinkamen, verkündigten sie, dass der gnädige Gott Sündern Gerechtigkeit schenkt.

Hoffnung für die Kirche

Was sollen wir heutzutage erwarten? Ja, ich hoffe ebenfalls auf eine Jugend, die sich auf die Suche nach der Wahrheit des Evangeliums begibt. Die ERKWB der Schweiz veranstaltet diese Reformationstage, um wieder davon zu sprechen, was den Glauben von Vielen so stärkte, dass sie bereit wurden gegen allen Widerstand an Gottes Gnade festzuhalten. Heutzutage herrschen viele Ahnungen und Eindrücke in Bezug auf das, wer Gott ist und wie Menschen zu ihm gehören können. Deshalb brauchen wir Anregungen, die Alt und Jung dazu motivieren, nach Klarheit zu suchen.

Luther machte darauf aufmerksam, dass der Mensch seine Seligkeit nicht in seiner Hand hat. Gott schenkt sie allen, die auf seinen Sohn vertrauen. Sein Gesetz und seine Liebe dienen beide dazu, dass wir dieses Geschenk annehmen können. Ich wünsche mir, dass die Vorträge der Reformationstage motivieren, das Evangelium zu suchen, um danach ein Segen für die Mitmenschen zu werden, wie es mit den vielen jungen Zuhörer zur Zeit Luthers geschah.