Gottes Wort verstehen

Gottes Wort verstehen

Reformationstage 2019

Von Huldrych Zwingli.

Es scheint mir gut, hier noch kurz zusammenzufassen, wie man zum Verständnis des Gotteswortes kommen und an sich selbst spüren kann, dass man von Gott erleuchtet ist. Oder wie die, die in der Schrift nicht bewandert sind, sich vergewissern können, ob die Priester die Wahrheit rein lehren, ohne sie durch eigene Leidenschaften zu besudeln.

  1. Jeder soll Gott inniglich anrufen, er möge in ihm den alten Menschen abtöten, der sich viel auf seine eigene Weisheit und sein eigenes Können einbildet.

  2. Wenn der alte Mensch getötet und ausgeleert ist, so wolle Gott selber gnädig in ihn einströmen, so reichlich, dass der Mensch Gott allein glaubt und vertraut.

  3. Widerfährt ihm das, so wird er gewiss über alle Massen mit Freude erfüllt und getröstet werden. Dann soll er immer wieder das Wort des Propheten sprechen (Psalm 68,29): «Herr Gott, befestige das, was du in uns gewirkt hast.» «Denn wer steht, sehe zu, dass er nicht falle», wie Paulus mahnt (1. Korinther 10,12).

  4. Gottes Wort übersieht niemanden und am wenigsten die Hochstehenden. Denn als Gott Paulus berief, sprach er zu Ananias (Apostelgeschichte 9,15): «Er wird zu meinem auserwählten Werkzeug, damit er meinen Namen zu den Fürsten und Königen der Erde trage.» Und er spricht zu den Jüngern nach Matthäus (Matthäus 10,18): «Ihr werdet vor Könige und Statthalter geführt, um mich vor ihnen zu bezeugen.»

  5. Es ist die Art des Gotteswortes, die Gewaltigen in ihrem Hochmut zu erniedrigen und den Demütigen gleich zu machen. So singt die Jungfrau Maria (Lukas 1,52): «Er hat die Gewaltigen von seinem Stuhl gestossen und die Demütigen erhöht.» Und Johannes predigte von Christus nach Lukas 3,5: «Es werden die Hügel durch ihn eingeebnet und die Täler ausgefüllt werden …»

  6. Das Gotteswort wendet sich überall an die Armen und hilft ihnen und es stärkt die Trostlosen und Verzweifelten. Die aber auf sich selbst vertrauen, die bekämpft es, dafür ist Christus Zeuge.

  7. Das Gotteswort sieht nicht auf den eigenen Vorteil. Darum befahl Jesus seinen Jüngern, weder Beutel noch Tasche bei sich zu tragen (Lukas 10,4).

  8. Gottes Wort strebt nur danach, dass Gott den Menschen kund werde, damit die Trotzigen ihn fürchten und die Demütigen in ihm Sicherheit finden. Wer so das Wort Gottes predigt, predigt ohne Zweifel recht. Wer aber auf Samtpfoten um seinen Nutzen herumstreicht wie die Katze um den Brei und wer lieber menschliche Vorschriften verteidigt, als der Lehre Gottes anzuhängen und sie zu erhöhen, der ist ein falscher Prophet. Die falschen Propheten aber erkennst du an ihren Worten. Sie schreien bedeutsam: «Die frommen Verräter! Sollen wir denn verachten, was diese Menschen vorgeschrieben haben?» So rufen sie etwa aus, statt dass sie ernstlich beklagten, dass das Evangelium lau gepredigt wird.

  9. Spürst du, wie Gottes Wort dich erneuert und du anfängst, Gott mehr zu lieben als ehedem, so lange du Menschenlehren hörtest, so sei gewiss: Gott hat das bewirkt.

  10. Spürst du, dass dir die Gnade Gottes und das ewige Heil zur Gewissheit werden, so ist das von Gott.

  11. Spürst du, wie das Gotteswort dich klein und zunichte macht, während Gott in dir gross wird, so ist das aus Gott gewirkt.

  12. Spürst du, wie die Furcht Gottes dich mehr und mehr erfreut statt betrübt, so ist das ein sicheres Zeichen, dass Gottes Wort und Geist in dir wirken. Diesen Geist wolle Gott uns geben! Amen.

Quelle: Huldrych Zwingli Schiften I, Die Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes, TVZ 1995.